«WO IST DEINE EIFERSUCHT? WO IST DEINE RELIGION?» Emotionsmanagement in polygynen salafitischen Partnerschaften

Mira Menzfeld  
Universität Zürich
Mira Menzfeld ist Ethnologin und arbeitet im Rahmen des UFSP «Digital Religion(s)» der Universität Zürich am Religionswissenschaftlichen Seminar zu «Digital Relations and Local Religious Communities» (Projekt 5). Bevor sie in die Schweiz kam, forschte und lehrte sie in Köln, Turku und Guangzhou. Sie beschäftigt sich mit den Digitabilitäten religiöser Rituale in Transmigrationskontexten, mit Salafis in Mitteleuropa sowie mit Sterbensprozessen in Südchina, Finnland und Deutschland. Ihre Promotionsschrift «What it means to die» wurde mit dem Dissertationspreis der DGSKA ausgezeichnet. Kürzlich gab sie zum Thema Salafiyya die Special Issue «Salafism in Europe. Empirical Approaches» des Journal of Muslims in Europe heraus (mit Sabine Damir-Geilsdorf, 2020). mira.menzfeld@uzh.ch

Zusammenfassung

Glauben, religiös-moralische Imperative und religiöse Handlungsintuitionen können Glaubenden Distanzierungen und Neubewertungen von Gefühlen und Impulsen eröffnen und nahelegen. Religiöse Normen und Prinzipien dienen dann unter Umständen zugleich als Leitlinien und als Mittel, um Gefühle einzuschätzen, umzudeuten, zu verändern oder zu dämpfen. Indem ich Begriffe, Einordnungen und Modifikationen von «protektiver» und «destruktiver» Eifersucht unter polygyn lebenden deutschschweizer Salafis darlege, werde ich im Folgenden skizzieren, wie solche religiös-moralischen Normen das intrapersonelle und das nahbeziehungsbezogene Emotionsmanagement beeinflussen können. Ich begreife das salafitische Angebot an Strategien zur Affektevaluation als einen ebenso unterschätzten wie wichtigen Attraktionsfaktor, der Salafis an ihrem Glauben anzieht und in ihm verwurzelt. Emotionsregulationsstrategien sind eine wichtige Facette jener vielfältigen Mittelbarkeiten und Nähe-Distanz-Auslotungen, die salafitische Religiositäten wesentlich ausmachen.

Abstract

Faith, ethical-religious imperatives, and religious intuitions evoke intense feelings. They may also enable various ways of distancing from and re-evaluating individual opinions and impulses. Believers may resort to internalized religious norms and principles of faith to evaluate strong feelings, modify them, and/or filter them. In this article, I examine understandings, evaluations and modifications of potentially “protective” or “poisonous” jealousy that I witnessed among Swiss-German Salafis who live in polygynous relationships. I show how religious-moral norms can guide intrapersonal as well as relationship-related emotional management. I thus identify Salafism’s capacity to offer evaluative tools for emotional balancing as one of the important yet underestimated motivations for becoming a Salafi Muslim. Strategies for emotional regulation are an important facet of the several negotiations between distance and closeness that are characteristic of Salafism at large.

Einleitung

Ein wesentlicher Aspekt menschlichen Handelns ist es, Emotionen hervorzurufen, abzurufen und zu kanalisieren. Das gilt auch und gerade für religiöse Kontexte: Zum Beispiel im Fall der kontemporären mitteleuropäischen Salafiyya, mit der sich der vorliegende Text näher befassen wird. Viele Salafis1 realisieren religiös konnotierte Gefühlsregulationsangebote in Form einer bewussten Zwischenschaltung religiös-moralischer Evaluationen von Affekten und Stimmungen, der sie sich regelmässig im Alltag widmen, die aber besonders konzentriert vollzogen wird, wenn sich intensive Gefühle jedweder Art ankündigen. Diese Zwischenschaltung kann inter- und/oder intrapersonell ablaufen, im Austausch mit anderen oder im Stillen erfolgen. Sie referiert aber auch im Fall eines vornehmlich intrapersonellen Vollzugs stets auf einen als gottgewollt interpretierten Normenkanon, und erstrebt das Wohlwollen einer göttlichen Instanz.

Eine solche religiös inspirierte Emotionsevaluation ist darum grundsätzlich triangulativ: Sie bezieht sich zumindest vorübergehend explizit auf etwas Extrinsisches, und mindestens die angenommene Gottesgegenwart ist das Gegenüber. In diesem Artikel möchte ich anhand eines Fallbeispiels aus einer polygynen salafitischen Ehe aufzeigen, wie solche Emotionstriangulationen im Falle protektiver und destruktiver Eifersucht stattfinden können.

Es ist zunächst keine originelle Einsicht, dass Glauben, Gefühle2 und Moral eng zusammenhängen. So zeigte beispielsweise Julia Cassaniti (2014) die enge Verwobenheit religiös-moralischer Bewertungen, Emotionsbewertungen, gezeigter Emotionen und Gefühlsintensitäten in Thailand auf. Cassaniti charakterisiert dabei Gefühle als wesentlich für das Verstehen von religiösem Erleben und von Alltagsmoral; Emotionen betrachtet sie in ihrer Analyse erwähnenswerterweise “less as the underpinning of moral judgments and more as objects of moral assessments” (Cassaniti 2014, 280). Hierbei klingt an, was anderswo zum Beispiel (Röttger-Rössler et al. 2015; Röttger-Rössler und Markowitsch 2009) als feeling rules (Röttger-Rössler et al. 2015, 187) adressiert wird: Bestimmte Normen oder Leitlinien, die besagen, welche Gefühle in welcher Intensität erwünscht oder unerwünscht beziehungsweise allgemein moralisch vertretbar sind. Solche feeling rules können sich unter anderem in display rules (Röttger-Rössler et al. 2015, 189) – also: wie, wann und warum zeige ich idealerweise wem welche Gefühle (nicht)? – äussern, aber auch in einem subjektiv intensiveren beziehungsweise weniger intensiven Wahrnehmen von bestimmten Gefühlen niederschlagen.

Genau solche religiös begründeten feeling rules unter SalafitInnen werden Thema des folgenden Artikels sein, der damit einen Beitrag zu ethnologischen Auslotungen des Nexus von Glauben, Gefühlen und Moral leistet.3 Im Laufe einer Feldforschung mit Salafis in der Schweiz begegnete ich Personen, die religiös grundierte Emotionsregulationsstrategien als eine wesentliche Quelle von Selbstberuhigung, Selbstentwicklung und Seelenfrieden bezeichneten. Auch wenn ihnen nicht jede konkrete, in ihrer Glaubensinterpretation religiös gebotene Emotionsregulation grundsätzlich leichtfiel, hielten sie sich doch für religiös und zugleich zugunsten ihres eigenen Wohlbefindens verpflichtet, Gefühle auf ihre moralische Adäquatheit und Erwünschtheit zu prüfen, bevor sie sie umfänglich zur Kenntnis nahmen oder ausdrückten. Diese Qualität salafitischer Glaubensalltage geht über die bereits präzise beschriebenen Bemühungen vieler Salafis um ein religiös-moralisch richtiges Leben (de Koning 2013a; 2013b; Mahmood 2005) hinaus – wenngleich beide Selbstregulationsweisen mitunter eng miteinander zusammenhängen und religiös ähnlich begründet werden.

Ich halte Emotionsregulationsstrategien für einen wesentlichen konversionstreibenden wie auch glaubensstabilisierenden Faktor, der bislang in der Forschung zu SalafitInnen4 zu wenig Beachtung erhält. Es ist aber essentiell, Gefühlsregulationsstrategien zu bemerken und ihre Wichtigkeit anzuerkennen, um Salafis in Europa umfassend zu verstehen.

Akteur:innen in Deradikalisierungs- und Präventionsprogrammen und Wissenschaftler:innen erwägen als wichtige Gründe für salafitische Personen, Salafi geworden zu sein, häufig etwa: Einen mutmasslichen Strukturbedarf der Glaubenden, eine Fokussierung auf vermeintlich letzte Wahrheiten, attraktive Gemeinschaftlichkeit in den puristischen Moscheegemeinden, maskulin-kriegerische Rollenangebote bei den Jihadis, vermeintlich stets klare Genderrollen, und vieles mehr (vgl. Dantschke 2014; Dziri und Kiefer 2018; Eser Davolio 2017; Nuraniyah 2018; Olsson 2020; Poljarevic 2016; Vidino 2013). Damit haben sie oft auch recht. Aber verblüffend selten wird die intensive Zufriedenheit und das Sicherheitsgefühl thematisiert, die auf die Dämpfung und Readjustierung von Affekten zurückzuführen sind, wobei Letztere in salafitischen Kontexten durchaus klar gefordert werden. Genau diese Regulationen und ihre Effekte machten allerdings in den Begegnungen, die ich in den vergangenen Jahren mit Salafis hatte, einen nicht unwesentlichen Teil privater salafitischer Glaubenserfahrungen aus. In diesem Text soll darum das salafitische Alltags-Gefühlsmanagement im Mittelpunkt stehen.

Der folgende Abschnitt widmet sich methodischen Fragen. Anschliessend führe ich kurz in den Themenbereich Emotionsaushandlungen und Eifersuchtsbegriffe unter Salafis ein. Ein weiterer einordnender Abschnitt kontextualisiert knapp die rechtlichen Rahmenbedingungen, die religiös begründeten Eheverständnisse und die salafitischen Gendernormen, innerhalb derer sich polygyn lebende deutschschweizer Salafis bewegen. Danach präsentiere ich im Hauptteil ein Fallbeispiel, das sich auf konkrete Eifersuchtsbewertungen unter polygyn lebenden Salafis konzentriert. Am Schluss werden die gewonnenen Einblicke zusammengeführt und emotionale Mittelbarkeiten als ein wesentliches Attraktionsmoment der kontemporären europäischen Salafiyya identifiziert.

Methodisches

Die hier präsentierten Ergebnisse erarbeitete ich im Rahmen des Projekts «Deutschsprachige SalafistInnen in der Schweiz: Skizze der gegenwärtig präsenten Spektren und Analyse ihrer moralischen Aushandlungsprozesse»5. Der Forschung gingen mehrjährige Arbeiten zu und mit Salafis in Deutschland voraus.

Die illustrierenden Originalzitate habe ich aus lokaler Mundart ins Hochdeutsche übertragen. Alle Namen wurden anonymisiert und, wenn es notwendig schien, auch biographische Besonderheiten verändert. Dies geschah hinblicklich der Wünsche meiner Feldkontakte, aber ebenso als ethisch gebotene Massnahme: Denn auch Salafis, die ihren Glauben vor allem privat leben möchten und weder politisch noch gar gewalttätig aktiv werden, haben bei Klarnennung oder Identifizierbarkeit möglicherweise mit behördlicher Ansprache und Beobachtung sowie sozialer Ächtung zu rechnen.

Auswahl der ForschungspartnerInnen und Kontaktaufbau

In der Schweiz kann von einer niedrigen bis mittleren vierstelligen Zahl an Salafis ausgegangen werden (Einschätzungsgrundlage: eigene Forschung 2019–2021), die verschiedensten Subströmungen angehören oder keinem Spektrum eindeutig zuzuordnen sind, und die meistenteils nicht fremdgefährdend agieren und dies auch nicht anstreben. Verlässliche Statistiken gibt es nicht, da Salafis sich nirgends als solche registrieren und gerade islamische Strömungen vonseiten staatlicher Stellen vorrangig unter dem Blickwinkel ihrer angenommenen Gefährlichkeit erfasst und kategorisiert werden. Offizielle Zahlen geben damit zwar recht präzise an, wie viele Menschen die zuständigen Behörden als (potentielle) Jihadis oder als demokratiefeindliche Muslime kategorisieren; aber sie sagen nichts darüber aus, wie viele Menschen welchen salafitischen Glaubensvorstellungen folgen. Hinzu kommt, dass viele Salafis sogenannte Jihadis oder takfiris gar nicht als Salafis betrachten (und umgekehrt). Dies wird meist mit theologischen Unvereinbarkeiten begründet, je nach Untergruppe können solche trennenden Punkte sein: das Strafen mit Feuer, die tazkiya (hier etwa: Referenz/Empfehlung, von einem anerkannten Experten in Glaubensfragen und bezogen auf theologische Kompetenzen) auch für und durch militärische Befehlshaber, Übertreibung und damit religiöse Neuerung, etc. Jihadis und Salafis können also keinesfalls als Synonyme betrachtet werden.

Im Rahmen meiner Forschung konzentrierte ich mich auf die übergrosse Mehrheit an Salafis, die nicht gewalttätig sind oder werden wollen. Ich führte Teilnehmende Beobachtungen in verschiedenen Glaubensgruppen und religiösen Zirkeln durch und nahm an salafitischen Workshops teil. Ausserdem fanden Interviews mit Einzelpersonen, Paaren, Kleingruppen und Familien statt. Wichtigste Einschlusskriterien waren, dass potentielle ForschungspartnerInnen a) volljährig waren; b) nach ihrem eigenen Verständnis in besonderer Weise an den ersten drei Generationen von MuslimInnen orientiert lebten; c) eine besonders literalistische Auslegung von Qur’an und Hadith vertraten; d) eine bestimmte Glaubensmethodik bzw. Glaubensausübung (manhaj) verfolgten, die eng mit spezifischen religiösen Konzepten und Prioritäten zusammenhängt, welche als salafitypisch gelten können. Beispiele für solche Konzepte sind Loyalität und Lossagung, oder auch ein besonderes Verständnis der Einheit Gottes (s. weiterführend Wagemakers 2018, zum Problem der eindeutigen Eingrenzung salafitischer Beforschtengruppen s. Damir-Geilsdorf und Menzfeld 2020).

Salafitische ForschungspartnerInnen gewann ich teils über Kontakte aus früheren Forschungen, teils durch persönliche Empfehlungen nach Art eines Schneeballsystems. Die in diesem Text vorgestellten ForschungspartnerInnen vermittelte mir eine Frau, die ich an einer halbprivaten Veranstaltung kennengelernt hatte, an der Partnersuchende und junge Eheleute unter anderem einen Auffrischungs-Workshop zu salafitischen Eheidealen besuchen konnten – dort war auch Polygynie ein intensiv debattiertes Thema. Die unten beschriebenen Einblicke gewann ich durch langandauernde informelle Kontaktpflege, halbstrukturierte Einzelinterviews, Interviews in wechselnden Konstellationen mit zwei und mit allen drei Mitgliedern der Ehegemeinschaft, sowie (in shutdown-Phasen während der Coronapandemie) durch Videochats und schriftliche Messenger-Unterhaltungen.

Ich habe mich entschieden, im Artikel auf ein Fallbeispiel zu fokussieren, weil ich überzeugt bin, dass sich die besonderen Formen salafitischer Gefühlsregulationen und ihre Binnenlogiken anhand eines einzelnen und dafür dicht beschriebenen Beispiels besonders gut nachvollziehen lassen. Deutschschweizer polygyne Salafi-KonvertitInnen wie das weiter unten vorgestellte Trio sind dabei ein Spezialfall unter polygyn lebenden Muslim:innen weltweit, der nicht ohne Weiteres dazu dienen kann, Rückschlüsse auf die Realitäten und Dynamiken polygyner Konstrukte im Allgemeinen zu ziehen. Im Rahmen genau dieses lokalen salafitischen Kontexts aber sind Erfahrungen und Annahmen, wie sie im Fallbeispiel vorgestellt werden, durchaus breit nachvollziehbar sowohl für selbst polygyn lebende Salafis als auch für nicht polygyn lebende Salafis. Darum halte ich es für sinnvoll und vertretbar, den geschilderten Fall als pars pro toto-Beispiel für salafitische Gefühlsregulationsstrategien anzuführen.

Anmerkung zu genderbedingten Potenzialen und Einschränkungen

Während es mir als nichtmuslimischer Forscherin in diesem Feld relativ umstandslos gelang, offene und vertrauliche Gesprächsebenen mit salafitischen Frauen zu etablieren, dauerte es deutlich länger, vergleichbare Austauschqualitäten mit salafitischen Männern zu entwickeln. Das ist nicht typisch für die Arbeit einer weiblichen Forschungsperson mit Salafis. Im Gegenteil: In vorherigen Projekten beispielsweise in Deutschland konnte ich einfacher Kontakte zu salafitischen Männern herstellen und halten, und auch private Themen besprachen Salafi-Männer durchaus – Salafitinnen hingegen weniger oft und weniger bereitwillig. Das war der Fall, obwohl es nach salafitischer Auffassung weitaus problematischer ist, wenn ein Mann mit einer unbedeckten fremden Frau persönliche Gedanken austauscht, als wenn stattdessen zwei Frauen beteiligt sind.

Ich gehe davon aus, dass die unerwartet erfolgreichen Zugänge zu salafitischen Frauen im Gegensatz zu salafitischen Männern in der Deutschschweiz schlicht damit zusammenhingen, dass ich häufiger durch Frauen anderen Frauen vorgestellt wurde, als es in Deutschland der Fall war. In Deutschland hingegen bauten sich meine Kontaktnetzwerke häufiger über einen Erstkontakt zu einem Mann mit gewisser gruppeninterner Autorität auf.

Vor diesem Erfahrungshintergrund vermute ich, dass für weibliche Forschende in salafitischen Umgebungen nicht so sehr das eigene Gender zu bestimmen scheint, mit wem sie tiefgehende Kontakte etablieren können – sondern vielmehr die Geschlechtszuordnung der Anfangskontakte sowie, daraus folgend, der bevorzugte Zugang zu den je entsprechenden geschlechtsspezifischen sozialen Netzwerken. Für männliche Kollegen verhält sich das anders: Sie erhalten oft nur oder vor allem Zugang zu salafitischen Männern und haben Mühe, mit Frauen in Kontakt zu kommen (de Koning 2018, persönliche Unterhaltung). Zumindest bei mitteleuropäischen salafitischen (Re-)KonvertitInnen scheinen weibliche Forschende also weniger gender-bezogene Restriktionen ihrer Forschungsfelder zu erleben.

Zu salafitischen Gefühlsaushandlungen und Eifersuchtsbegriffen

Die Bedeutung freiwilliger moralischer Selbstregulierung für Salafis stellten bereits Arbeiten wie jene von Mahmood (2005) mit einem Fokus auf islamische Frömmigkeit in Ägypten, Schielke (2009) zu den Grenzen von Selbstregulationen und Idealentsprechungen salafitischer Ägypter, Inge (2017) zu salafitischen Frauen in Grossbritannien und de Koning (2013a; 2013b) über Salafis in den Niederlanden fest. Sie alle zeigen, dass intersubjektive und lebensbereichsübergreifende Dynamiken die Bewertung von Handlungen, Beziehungen und Alltagsroutinen nach den Massstäben religiös-moralischer Normen wesentlich beeinflussen. Sie machen ausserdem deutlich, dass selbst die vermeintlich klarsten religiös-moralischen Regeln und Bewertungskriterien stets einer kontextspezifischen Auslegung bedürfen, wobei diese Auslegung bisweilen hochgradig interaktiv und dialogisch erfolgen kann (Chaplin 2018). Ausserdem zeigen bisherige Forschungen zu moralischen Selbstmodifikationen unter Salafis, dass die Aneignung salafitischer Normen nicht ohne ein Mitdenken der Normen und Lebensrealitäten der jeweiligen umgebenden (und nichtsalafitischen) Mehrheitsgesellschaft verstehbar ist (Schielke 2009; 2010).

Auch in den Feldforschungsausschnitten, die ich weiter unten thematisieren möchte, sind religiös-moralische Evaluationen und Disziplinierungen nichts gebrauchsfertig Übernehmbares oder gar Oktroyiertes, sondern etwas, das kontextspezifisch je neu erschlossen werden muss. Allerdings ist im Fallbeispiel das Moment zwischenmenschlicher Dialogizität stark heruntergeregelt: Evaluationen erfolgen selten in der Auseinandersetzung mit anderen Salafis etwa in einer Gemeinde, und selten unter expliziter Rückbezugnahme auf Normen der Mehrheitsgesellschaft, was sich etwa in Form einer verbalisierten Abgrenzung gegenüber nichtsalafitischen Emotionsnormen ausdrücken könnte. Im Gegenteil eignen sich viele meiner deutschschweizer ForschungspartnerInnen religiös-moralische Gefühlsregulationsstrategien für sich, aber in intensiver Auseinandersetzung mit ihren religiösen Leitschriften und einem vermuteten Willen Gottes an. Das dialogische Moment findet also auch bei ihnen statt, allerdings mit einem angenommenen göttlichen Gegenüber.

Aus diesem Grund erschien es mir übrigens nicht völlig überzeugend, die beschriebenen Emotionsregulationen vorrangig als Techniken des Selbst zu deuten. Die emisch enorm dialogisch gedachte Bezogenheit auf ein göttliches Gegenüber, die den Selbstregulationen zugrundeliegt, könnte durch eine foucaultianische Lesart zu stark in den Hintergrund treten. Damit möchte ich aber nicht andeuten, dass ein solcher Ansatz allgemein wenig nützlich wäre: Eine einleuchtende Möglichkeit, transgressive Potentiale muslimischer (Nicht-)Praxen in nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaften auszuloten und sie als Selbsttechniken zu analysieren, bietet beispielsweise Fadil (2009) an.

Dass deutschschweizer Salafis sich Emotionsregulationsprozesse seltener im zwischenmenschlichen Austausch aneignen, liegt auch an der Verstreutheit von Salafis in der Schweiz. Nicht wenige deutschschweizer Salafis stehen darum allenfalls in losem Kontakt zu ähnlich Glaubenden, zum Beispiel nur dann, wenn sie religiöse Workshops oder unregelmässig stattfindende Gesprächskreise in etwas entfernteren Orten besuchen. Im Alltag befassen sie sich eher allein oder im Rahmen ihrer jeweiligen Partnerschaften mit religiösen Normen und deren Umsetzung. Da im Falle der weiter unten vorgestellten drei SchlüsselinformantInnen ausserdem persönliche Vorbehalte gegenüber den zwei halbwegs wohnortnahen Salafi-Gemeinden eine Rolle spielen, finden ihre emotionsregulativen Anstrengungen sogar fast ganz im Privaten statt.

Ein Gefühl, zwei Bewertungen: Gute und schlechte Eifersucht

Ein Emotionsspektrum, das Salafis insbesondere in Partnerschaftskontexten intensiv bewerten und modifizieren, ist die Eifersucht. Eifersucht tritt für Salafis als protektive oder selbstbezogene Eifersucht in Erscheinung – oder als «gute» und «schlechte» Eifersucht, wie es meine ForschungspartnerInnen manchmal ausdrücken – und ist entsprechend unterschiedlich zu handhaben. Die schützende Eifersucht lässt sich als gottgefälliges Gefühl und zugleich als Vorsichtsmassnahme zur Vermeidung von Versuchungen, besonders von deplatzierter sexueller Attraktion, beschreiben. Sie dient einerseits dem Schutz des Partners oder der Partnerin, der oder die nicht in als sündhaft oder versuchend interpretierte Begegnungen oder Blicke hineingeraten soll; andererseits aber auch dem Schutz des Seelenheils anderer, die sich vom Anblick der unbedeckten oder aufreizend bekleideten Partnerin oder des Partners mit dem engen Shirt und den knappen Badeshorts angezogen fühlen könnten.

Im Feld wird die Formulierung «gute Eifersucht» oft austauschbar verwendet mit dem Terminus ghira. Letzterer besitzt auch Begriffsnuancen wie Ehrempfinden, Ehre, und bezeichnet ausserdem das Gefühl des Widerstrebens, wenn sich Unbefugte etwas aneignen, das ihnen nicht zusteht (sondern der empfindenden Person). Ghira kann nicht nur als Gefühl, sondern zusätzlich als religiös-moralisches Ideal und auch als einforderbarer Schutzmechanismus innerhalb einer Beziehung verstanden werden. Salafis sind sich allerdings nicht einig darüber, ob eine maximale Steigerung und Förderung der ghira als maximal positiv zu bewerten sei, oder ob eine übermässig gesteigerte ghira auch zu negativen Konsequenzen und Übertreibungen führen könne.

«Gute» Eifersucht kann, muss aber nicht verflochten sein mit anderen Gefühlen, die ebenfalls religiös-moralischen Bewertungsnormen unterliegen oder gar als religiös eingebetteter Wert an sich gelten. Ein Beispiel für einen wichtigen, mit protektiver Eifersucht eng verknüpften religiösen Wert, der zugleich eine nah verbundene Emotion und manchmal zudem eine display rule darstellt, ist die Schamhaftigkeit (ḥaya; dazu später mehr).

Eifersucht gegenüber anderen, die beispielsweise von Selbstunsicherheit oder Verlustängsten herrührt und nicht als protektive Eifersucht eingeordnet werden kann, gilt es hingegen zu bekämpfen. Diese Form der Eifersucht erkennen Salafis zwar als gewöhnliche emotionale Regung beider Geschlechter an, aber nicht als wünschenswert oder gar gottgefällig. Man soll «schlechte» Eifersucht nicht fördern, sondern im Zaum halten. Unter Umständen wird das Ankämpfen gegen diese als nicht religiös begründbar oder erwünscht verstandene Eifersucht sogar als Teil des persönlichen jihad an-nafs, also eines Kampfs gegen Selbstbezogenheit und destruktive innere Impulse (siehe auch Gauvain 2013 zum Thema Seelenläuterung in der salafiyya) und als Weg zur schrittweisen Vervollkommnung der eigenen Glaubenspersönlichkeit betrachtet, die wiederum maximale Gottgefälligkeit und einen Platz im Paradies zur Folge hat.

Die konkrete Interpretation und Erwünschtheit eines jeweiligen Eifersuchtsgefühls ist stets kontextabhängig. Sowohl protektive, gute als auch destruktive, schlechte Eifersucht werden prinzipiell für alltägliche menschliche Regungen gehalten. Der Umgang mit ihnen unterscheidet sich aber je nachdem, inwieweit sie in einer konkreten Situation als im Einklang mit religiösen Emotionsempfehlungen und -werten übereinstimmen.

Ein Kontext, innerhalb dessen besonders scharfe Grenzen zwischen protektiver und destruktiver Eifersucht gezogen werden, ist der Kontext polygyner Ehen (vgl. Illi 2018 für ein Beispiel)6. Medienwirksam durch den «Islamischen Zentralrat Schweiz» (IZRS)7 und hier insbesondere durch Frauen in leitenden Positionen in den letzten Jahren wiederkehrend aufbereitet, war das Thema Polygynie im Laufe der Forschung immer wieder Gegenstand von Gesprächen mit verschiedenen GesprächspartnerInnen. Insbesondere Salafis, die bereits in polygynen Beziehungen leben, möchte ich im Folgenden in den Blick nehmen: Anhand ihrer Aussagen und emotionalen Handhabungsleistungen lässt sich der Umgang mit als protektiv respektive destruktiv verstandener Eifersucht gut veranschaulichen.8

Einordnendes zur Rechtssituation, zu Polygynie als selten realisiertem Ideal und zu salafitischen gender-Normen

Im nächsten Kapitel werden drei polygyn lebende Menschen vorgestellt. Eine solche Ehekonstellation ist in der Schweiz nicht nur aussergewöhnlich selten: Polygynie und Polygamie allgemein sind sogar verboten (vgl. Artikel 215 StGB). Jede nach der Erstehe durch eine:n Schweizer:in oder in der Schweiz geschlossene Ehe gilt als strafbar.9 Es ist also zunächst einmal zivilrechtlich gar nicht möglich, dass ein bereits verheirateter Mann auf Schweizer Boden eine weitere Frau rechtsverbindlich heiratet. Eine rein religiöse Trauzeremonie wiederum hat keinerlei rechtliche Bedeutung, solange ihr nicht eine zivilrechtliche Trauung vorangeht (vgl. Stellungnahme Bundesrat 2012). Zwar gab es in den vergangenen Jahren Vorstösse zu Familienrechtsreformen (vgl. Schwenzer 2013), die u. a. die Straftatbestände der Mehrehe neu bewerten sollten. Allerdings liefen diese bislang ins Leere.

Dass die weiter unten vorgestellten Salafis Ursula, Martina und Marco sich als polygyne Ehegemeinschaft betrachten, kann aus juristischer Perspektive in ihrem Heimatland also schlicht nicht sein. Die Ehe Ursulas, der Zweitfrau, mit Marco ist nur in ihren eigenen Augen und nach Meinung ihrer salafitischen Bekannten religiös gültig. Dieses Konstrukt beinhaltet eine signifikante juristische Benachteiligung für Ursula, da sie keinerlei Möglichkeiten hat, zum Beispiel im Scheidungsfall ähnliche Rechtsansprüche anzumelden wie eine zivilrechtlich angetraute Ehefrau. Sie selbst rechnet aber nicht damit, dass ihr salafitischer jetziger Ehemann sich je von ihr scheiden lassen könnte, und geht davon aus, dass im Falle des Falles eine solche Scheidung nach islamischem Recht vorgenommen würde – sie also keine zivilrechtliche Absicherung benötige, da das islamische Recht sie ausreichend schützen werde.

Nicht nur in der Schweiz allgemein, sondern auch unter Schweizer SalafitInnen ist eine tatsächlich realisierte polygyne Ehe eher selten. Zwar gestatten religiöse Beziehungsnormen salafitischen Männern prinzipiell, bis zu vier Frauen zugleich zu ehelichen, aber nur unter strengen Bedingungen. Der Mann muss angemessene und gleiche Lebens- und Versorgungsbedingungen in emotionaler und finanzieller Hinsicht für alle Ehefrauen bieten können und sie alle genau gleich behandeln – eine Aufgabe, die nahezu unerfüllbar ist (vgl. Sure 4, 129; Sure 4, 3; s. auch abukhadeejah.com 2019). Entsprechend wenige Salafis trauen sich eine Mehrehe zu.

Andere wiederum glauben, dass sie die vielfältigen Herausforderungen einer Mehrehe schultern können. Gründe, warum sie einer Mehrehe zuneigen, können vielfältig sein: Beispielsweise, dass sie sich dadurch dem Vorbild Muhammads in seiner Sorge um Alleinstehende näher sehen.10 Ebenfalls wird oft angeführt, dass die Mehrehe Männer und ansonsten unverheiratet bleibende Frauen vom (religiös verbotenen) Konsum von Pornografie oder nichtehelichen sexuellen Beziehungen abhalten könne. Polygynie sei ausserdem eine religiös erlaubte Lösung für den Fall, dass ein Mann sexuelle Abwechslung wolle, aber nicht gegen das Gebot innerehelicher Sexualexklusivität verstossen wolle; und sie mache es unwahrscheinlicher, dass eine Frau zum sexuellen Vergnügen benutzt werde, ohne dass sie eine entsprechende eheliche Absicherung erhalte (s. bspw. salafimanhaj.com 2014; vgl. auch abukhadeejah.com 2014, 2019).

Als in einer Ehe religiös wünschenswert und förderlich für die persönliche Zufriedenheit betrachten die meisten Salafis ausserdem, wenn alle Beteiligten in vielerlei Hinsicht komplementär gedachten Gender-Rollen entsprechen (vgl. bspw. Al-Fawzan 2017; 1wissen2taten3dawah.wordpress.com 2016; abukhadeejah.com 2014). Die individuelle Geschlechterrolle wird dabei binär an den primären Geschlechtsmerkmalen des jeweiligen Menschen orientiert zu- und festgeschrieben.

Religiös begründete geschlechterspezifische Normen und Ideale wirken für alle Salafis in zahlreiche Lebensbereiche hinein, auch wenn diese Normen teils unterschiedlich interpretiert werden. Solche Normen regeln beispielsweise Kleidungsaspekte wie das Verhüllen des männlichen und weiblichen Schambereichs oder Vorschriften zu Materialien, die einem Geschlecht vorbehalten sind (beispielsweise Gold und Seide den Frauen). Besonders sichtbar werden Gender-Normen in der normativen Verknüpfung von Mannsein bzw. Frausein mit sehr verschiedenen Verantwortungsbereichen im alltäglichen Zusammenleben. Innerhäusige Erledigungen und Kindererziehung obliegen normgemäss beispielsweise den Ehefrauen; Ehemännern hingegen der finanzielle Unterhalt von Frau(en) und Kindern, manchmal auch alle ausserhäusigen Besorgungen wie Einkäufe, ausserdem die moralisch-religiöse Anleitung ihrer Familie.11

In der Realität salafitischer Alltage zeigen sich jedoch ungleich differenziertere Aneignungen von religiös begründeten Geschlechterrollen.12 Auch genderspezifisches Handeln, das sich leicht bis moderat gegenläufig zu religiösen Idealen darstellt, kommt vor: Beispielsweise wenn eine Frau erwerbstätig ist, um das Familieneinkommen zu steigern, obwohl sie dem Ideal nach ganz auf den häuslichen Bereich konzentriert bliebe. Solche Abweichungen werden aber nicht einfach kommentarlos gelebt, sondern sorgfältig als von bestimmten qur’anischen Versen und Hadithen einigermassen gedeckt gerechtfertigt und interpretiert. Beispielsweise sagt Marco, dessen Zweitfrau erwerbstätig ist: «Es heisst, der Islam soll leicht sein. Allah will nicht, dass wir es uns schwer machen. Es wäre gerade halt sehr schwer, wenn beide Frauen zum Beispiel gar nicht mitverdienen». Solange die Absicht stimme, dass irgendwann alle seine Frauen zuhause bleiben könnten, dann wäre es nicht so schlimm, wenn dieses Ideal gerade noch nicht umgesetzt werde.

Zumindest nominell klare Geschlechterverhältnisse und ihre konkreten Konsequenzen sind für KonvertitInnen wie die in diesem Text vorgestellten Personen Teil der Attraktion ihres salafitischen Glaubens. Betonungen vermeintlich grundsätzlicher Geschlechterungleichheiten nivellieren sich allerdings vor der stets übergeordneten Wichtigkeit des individuellen Verhältnisses zu Gott – auch und gerade, wenn es um Emotionsregulationen geht. Frauen wie Männer haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten nach einem religiös idealen Leben zu streben; und Frauen wie Männer sind aufgefordert, Menschen zu korrigieren, die vom rechten Weg abkommen. Es ist keinesfalls unüblich, dass gerade salafitische Männer schon in der Eheanbahnungsphase klar beschreiben, inwiefern in Glaubensfragen die Autorität des Ehemannes zugunsten einer Machthierarchie, die sich ausschliesslich am besseren religiösen Beleg orientiert, zurückzustehen hat:

Sie soll mir gehorchen aber wenn ich fehlgehe, muss, sie mich korrigieren (…) Was zählt ist das bessere [Glaubens-] argument aber wenn es nicht um argumente geht, soll sie sanftmütig und gehorsam sein. (Originalschreibweise. Auszug aus einem Inseratstext einer Partnerbörse für Salafis, abgerufen via WhatsApp, 11.02.2020)

Fallbeispiel: Martina, Ursula und Marco

Martina, Ursula und Marco sind Salafis, konvertiert, Mitte 30 und leben polygyn in der Schweiz. Beide Frauen betrachten sich als religiös mit Marco verheiratet. Zivilrechtlich gültig ist allerdings nur die Ehe von Marco und Martina, die auch im Standesamt geschlossen wurde. Das ist für die drei allerdings kein grosses Thema, sagen sie: Vor Gott seien sie eine durchaus legitime Ehegemeinschaft, und nur das bedeute ihnen etwas. Martina hat mit Marco ein gemeinsames Kind. Ursula ist erst vor einigen Monaten in Martinas und Marcos Leben getreten; sie ist geschieden, ihr Kind aus erster Ehe lebt bei ihr. Nach einer Zeit des Alleinlebens ist sie eine Ehe mit Marco eingegangen.

Ursula und Martina haben jeweils eigene Wohnungen in einer Schweizer Mittelstadt, wobei Ursula erst vor Kurzem in Martinas und Marcos Heimatort gezogen ist. Martinas Eltern sind bereits verstorben und haben ihr eine Eigentumswohnung hinterlassen, die sie mit ihrem und Marcos Kind bewohnt. Ursulas Wohnung bezahlt zu ungefähr zwei Dritteln Marco. Zusätzlich arbeitet Ursula («noch», wie sie sagt, «wir wollen natürlich, dass ich mich hier auf die Familie konzentrieren kann [und keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehe]») und steuert damit ebenfalls einen Teil zu Miet- und Alltagsausgaben bei. Martina ist nicht erwerbstätig, weil – wie sie sagt – «das Ziel ist, dass die Frau machen kann, was ihre Aufgabe ist, Haus und Kinder erziehen und ein schönes Heim machen». Marco lebt wechselweise bei Martina und seinem Kind, sowie bei Ursula und seinem Stiefkind. Er sagt, es sei nicht leicht für ihn, für alle finanziell und emotional angemessen aufzukommen, «aber wenn ich hart arbeite, kann ich ja auch allen immer mehr bieten».

Marco und Martina sagen, dass ihnen schon lange klar gewesen sei, dass eine polygyne Ehe ein «schönes Ziel» (Martina) sei. Religiös-moralisch begründen sie diese Einstellung so, wie es Salafis aus vielen unterschiedlichen Strömungen auch tun (vgl. EZE CH 2020; Ulucay und Vogel 2020a, 2020b; Illi 2018): Wenn das Geld, die persönliche Eignung und die Fähigkeit zur emotionalen Gleichbehandlung mehrerer Frauen beim Mann vorhanden seien, dann sei es ihm geboten, mehr als einer Frau die Ehe zu ermöglichen. Täten dazu fähige Männer das nicht, hätten sie zu verantworten, dass unverheiratet bleibende Frauen mit Ehelosigkeit, Einsamkeit, finanzieller Prekarität, emotionaler Vernachlässigung und sexuellen Versuchungen zu kämpfen hätten. Ausserdem sei in Gemeinschaft alles leichter (Martina), Aufgaben des Alltags wie die Kinderbetreuung könnten in einer polygynen Beziehung aufgeteilt werden und «man hat ja dann auch immer wen zum Reden, eine Schwester, eine neue» (Martina).

Martina und Ursula kannten einander aus einer kleinen privaten Frauengruppe, die sich unregelmässig zwecks Austauschs über religiöse Fragen trifft, bevor Ursula Marco zum ersten Mal begegnete. Ursula empfand es damals als sehr schwierig, einen Mann zu finden, der «wie schon erwiesenermassen gut ist als Mann, für gerade eine islamische Ehe». Dieser Beweis der partnerschaftlichen Eignung eines potentiellen Gatten war ihr äusserst wichtig, da ihr Exmann offenbar weder ihre Religiosität unterstützte noch seine bisweilen aggressive Impulsivität kontrollieren konnte. In ihrer nächsten Verbindung wollte sie darum einen Mann, der sich bereits als Ehemann und Vater bewährte. Ursulas Familie unterstützt die Konversion ihrer Tochter nicht; Ursula konnte also nicht auf familiäre Vermittlung bei der Suche nach einem Ehemann hoffen, und «meine Scham13 verbietet es natürlich, dass ich einfach auf Männer losgehe [und sie anspreche]», wie sie sagt. Darum war Ursula froh, als Martina sie fragte, ob sie sich vorstellen könne, die zweite Ehefrau ihres Mannes zu werden – denn «bei Martina wusste ich, dass sie gut behandelt wird, und dass ihr Mann Religion hat und weiss, was eine Mehrehe bedeutet … auch an Pflichten für ihn» (Ursula).

Martina wiederum hatte mit Marco die Absprache gefasst, dass eine Zweitfrau zwar gemeinsames Beziehungsziel sei, aber niemals eine Annäherung Marcos an eine andere Frau ohne Martinas Zustimmung stattfinden könne:

Da hatte ich schon eine gesunde Eifersucht (…) es ist ja h. aram [tabubelegt, religiös verboten], dass ein Mann einfach dahergeht und Frauen durchsieht wie Kleidung, die man mal anzieht und dann wegwirft oder einfach nur mal hervorzieht und anschaut so zum Spass. (Martina)

Was Martina hier als «gesunde Eifersucht» kennzeichnet, bedeutet für sie: Eine Eifersucht, die religiös-moralisch zu rechtfertigen ist. Diese spezifische Eifersucht, die ihren Mann davor bewahrt, fremde Frauen visuell zu konsumieren und sich damit unter religiösen Gesichtspunkten schuldig zu machen an ihnen und ihren eventuellen (späteren) Partnern14, bedarf also aus Martinas Sicht keines Verschweigens und keiner Korrektur. Im Gegenteil, diese Eifersucht beinhaltet protektive Elemente und sie ist religiös geboten. Wenn also Martina diese spezifische Gefühlsherleitung betont und «dann auch schau[t], dass ich das wirklich auch so meine und nicht nur so tue, weil ich neidisch bin auf andere Frauen oder so» (Martina), haben wir es mit einer zunächst impulsiv empfundenen, daraufhin intrapersonell überprüften und schliesslich für religiös-moralisch gut befundenen Gefühlsregung zu tun. Solcherart geprüft und für gut befunden, wird das Gefühl in der Konsequenz nicht nur bewusst wahrgenommen, sondern auch mitgeteilt und dem beteiligten Mann explizit als religiös gerahmt dargelegt. Durch das Fühlen, Bewerten und Zulassen dieser Form von Eifersucht praktiziert Martina eine Eifersucht, die religiösen Norm- und Idealwert besitzt.

Marco sah seinerzeit zudem wenige Möglichkeiten, selbst potentielle Zweitfrauen kennenzulernen. Ein Mann könne zwar über bestimmte dating-Seiten wie etwa secondwife.com suchen, aber dann wisse er immer noch nichts über die soziale Reputation einer Person:

Und es ist auch nicht gut, da rumzusuchen und vielleicht auch begehrlich jemanden anzusehen. Islamisch ist es da richtig, dass man sich davon fernhält. Und da war es gut, dass Martina darum auch gesagt hat: Sowas geht nicht. Also islamisch ist das allweg nicht, und es ist auch nicht richtig, weil man soll seine Frau so angucken und nicht andere Frauen. Das konnte die Martina natürlich verlangen, dass ich da nicht mal in die Nähe von zina [Ehebruch] komme. Da passen wir schon aufeinander auf. (Marco)

Er interpretiert Martinas damalige Eifersucht also ebenfalls als religiös-moralisch gerechtfertigt und damit als protektiv. Für ihn ist diese Form der Eifersucht ein wünschenswertes Gefühl, ein religiöser Wert und zudem eine Fürsorgegeste unter Ehepartnern, die nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar erwünscht und hilfreich ist.

Dass Martina Ursula letztlich mit Marco zusammenbrachte, war einerseits dem Umstand geschuldet, dass die Frauen sich gut verstanden – und andererseits Martinas religiös begründeter Überzeugung, dass es Marcos Recht und ihre Aufgabe sei, eine weitere Ehegattin in die Familie aufzunehmen, wie sie sagt. Jeder Part einer sich anbahnenden polygynen Ehe führe dabei ihrer Ansicht nach einen «eigenen Kampf, um ein besserer Mensch zu werden»: Die Frauen fochten eher gegen die «einfach giftige» Eifersucht, der Mann ringe eher mit der Pflicht, allen gleichmässig eine gute Ehe zu bieten. Sowohl Ursula als auch Marco und Martina war immer wieder wichtig zu betonen, dass es «extrem zentral [ist], dass vor allem die Frauen sich mögen und miteinander gut auskommen» (Martina), da sie eine möglichst harmonische Lebensgemeinschaft zusammen aufbauen wollten und beide mit demselben Mann verheiratet seien.

«Giftige» Eifersucht bewältigen

Eines Abends beim Essen, es gibt Lamm, sitzt Ursula nah bei Marco und erzählt von einem Buch, das sie lesen möchte. Plötzlich ein Schrillen, rund um den Tisch schrecken alle auf: Ich selbst brauche einen Moment und drei rhythmische Wiederholungen des Schrillens, um zu verstehen, dass nicht etwa ein Feueralarm, sondern Marcos Handy die Quelle des Geräuschs ist. Marco zieht es umständlich aus seiner Hosentasche und wendet sich ab, während er das Gespräch annimmt; wenige Sekunden später verlässt er telefonierend das Zimmer. Ursula sieht stumm und zusammengesunken auf ihren Teller. Auf einmal hebt sie ruckartig den Kopf: «Ja, so ist das.» Was sie meine, frage ich leise. «Da ist jetzt sicher irgendwas bei Martina und dem Kleinen. Also, wir rufen Marco nur bei der anderen an, wenn was ist. Kann niemand etwas dafür. Aber eben, gerade waren wir ja hier zusammen.» Sie nimmt mir das Geschirr aus der Hand und verschwindet in der Küche. Als sie wiederkommt – Marco ist noch am Telefon – ist sie etwas entspannter und sagt: «Ich will nicht so neidisch sein, weil jeder macht ja [für das Gelingen der Ehegemeinschaft], was er kann hier […] ich sollte nicht eifersüchtig sein.» Ich frage, ob ich gehen solle, damit sie Zeit für sich habe. Sie antwortet, alles sei in Ordnung; später wolle sie beten und sich vor Augen rufen, dass sie Geduld haben müsse und ihre «giftige Eifersucht loswerden» wolle, «weil ohne fühle ich mich freier.» Immerhin gehe ihr Mann ja, wenn er von ihr weggehe, nicht zu irgendeiner Frau, sondern allenfalls in einem Notfall zu seiner eigenen Frau, nämlich Martina. «Und ich habe dadurch ja auch Vorteile. Ich muss ihn nicht alleine glücklich machen.»

Marco kommt ein wenig später herein und berichtet, sein Kind habe Fieber und Martina sei unsicher, ob ärztliche Behandlung nötig sei. Martina habe sich entschuldigt, in seine und Ursulas Zeit hineingeplatzt zu sein. Als er das sagt, lächelt Ursula ihn an und sagt: «Das macht gar nichts. Und der Kleine geht vor.» Marco ist in Gedanken offensichtlich bereits bei seinem fiebernden Sohn und kündigt an, vielleicht nachts zurückzukommen, falls das Fieber sinke. Ursula verabschiedet ihn und auch mich kurze Zeit später, um sich zurückzuziehen.

Ursula erlebt hier zunächst, was sie als «giftige» Eifersucht kategorisiert: Ein empfundenes Zurückgesetztsein und eine persönliche Betroffenheit, dass ihr Mann zu seiner Erstfrau geht und nicht bei ihr bleibt. Aber im Gegensatz zur protektiven Eifersucht gegenüber Nichtehefrauen ihres Mannes, die von ihr mitgeteilt und gehegt würde, reagiert sie auf diesen unerwünschten Eifersuchtsimpuls mit einordnenden und dämpfenden Selbstregulationen – die Eifersucht, die sie empfindet, erscheint ihr «giftig», weil sie nicht die Qualität eines religiösen Werts besitzt. Der Eifersucht auf eine nach ihrem Verständnis rechtmässige Ehefrau ihres Mannes begegnet sie, indem sie versucht, ihre unmittelbare Betroffenheit durch zeitnahe religiöse Kontemplation und Selbstmahnungen auszugleichen. In anderen vergleichbaren Momenten sagte sie, dass ein zentrales Ziel in puncto Emotionsregulation stets das subjektive Wohlergehen sei,

[weil] mich das ruhiger macht als alles andere, wenn ich mich von so einem giftigen Gefühl wegbringe […] Klar fange ich mich sozusagen auch darum [emotional] ein, weil das islamisch ist, aber eben auch, weil es mir dann einfach gut geht. (Ursula)

Auch Martina verwies in einer ähnlichen Situation mit umgekehrten Vorzeichen explizit darauf, dass ihr Glauben ihr nicht nur die Forderung stelle, selbstsüchtige Eifersucht zu drosseln, sondern ihr zugleich die Mittel dazu an die Hand gebe und damit effektiv auch ihre subjektive Entspanntheit fördere:

Wenn es mich überkommt [Eifersucht], dann konzentriere ich mich auf das, was schöne Eigenschaften für eine Ehefrau sind. Also wie ich sein will. Und ich bete und lese dazu [zu dem Thema], das macht mich ruhiger […] Ich merke ja selbst, wenn ich so Zickerei nicht zulasse, dann komme ich viel besser zuwege von meiner Stimmung her. (Martina)

Protektive Eifersucht hegen

Genauso kann die emotionale Selbstregulation gemäss religiös-moralischen Empfehlungen auch das Steigern einer als zu gering empfundenen «guten» Eifersucht betreffen. Dies ist eine Forderung, die beispielsweise Ursula gegenüber Marco hinblicklich ihrer Erwerbstätigkeit, die Kontakte mit fremden Männern beinhaltet, öfter und durchaus klar artikulierte. Marco wird von ihr ab und an freundlich ermahnt, mehr protektive Eifersucht zu zeigen, und erlebt diese Mahnungen als «gegenseitige Hilfe für ein islamisches Leben».

Wenn Ursula von der Arbeit kommt und Marco bereits in ihrer Wohnung auf sie wartet, kann es vorkommen, dass er kurz verstimmt ist. Er sagt dann beispielsweise halb scherzhaft, halb ernsthaft, dass sie sich besser um die Kunden ihres Arbeitgebers kümmere als um ihren Ehemann. Ursula kontert das meist auf zwei Ebenen. Einerseits betont sie, er müsse nicht daran zweifeln, dass ihr andere Männer egal seien; wenn sie gereizt ist, murmelt sie vielleicht zudem, er solle ihre Ehre nicht beleidigen. Andererseits stichelt sie halb witzelnd zudem oft, dass er besser schnell beruflich aufsteige, damit sie eine «richtige Frau» sein könne in dem Sinne, dass sie nicht länger zum Einkommen beitragen und beruflich bedingt fremde Männer treffen müsse; wenn er das nicht vorantreibe, werde er irgendwann noch als dayyuth betrachtet. Das wiederum ist die Bezeichnung für einen Mann, der beispielsweise Unzucht unter Angehörigen wissentlich duldet, der also religiösen Schutz- und Anleitungspflichten nicht nachkommt. Dayyuth bezeichnet ausserdem einen Mann, der nicht willens bzw. in der Lage ist, besonders weibliche Familienmitglieder daran zu hindern, aufreizend und somit Versuchung verursachend aus dem Haus zu gehen. Der Begriff wird je nach Kontext zudem in Verbindung gebracht mit Ehrlosigkeit, einem Verlust an Schamhaftigkeit des Mannes und dadurch auch seiner Angehörigen, mangelnder Erfüllung der Haushaltsvorstandsrolle des Mannes, Gehörntwerden, oder sogar Unmännlichkeit im Allgemeinen.

Einmal erklärte sie mir den ernsthaften Hintergrund ihrer scherzhaften Mahnungen: Die protektive Eifersucht, die sie von ihrem Gatten einfordere, sei eine gute Charaktereigenschaft eines Mannes; sie beweise seine ehrliche Sorge um ihre Seele – denn seine Eifersucht würde seine Frauen ja vor Versuchungen und Belästigungen bewahren – sowie für eine Wertschätzung ihrer Gattinnenrolle in einer Weise, die religiösen Idealen entspreche.15 Das könne sie religiös und persönlich von ihm verlangen – nicht aber, dass er «einfach nur stumpf mir dumm kommt, weil ich im Job eben Männer sehen muss», was sie klar als «giftige» und moralisch verwerfliche selbstbezogene Eifersucht wertet. Vor allem sei eine Kultivierung seiner protektiven Eifersucht jedoch «wichtig für seinen Glauben und schlussendlich auch dafür, dass er ein ganzer Mann ist und sich so auch fühlt.» Ursula führt also individuelle Wohlbefindensvorteile für alle Beteiligten, daraus resultierende wünschenswerte Lebensverhältnisse, einen zu erwartenden Reputations- und Männlichkeitsgewinn für ihren Mann mit einem dadurch gesteigerten Weiblichkeitsgewinn für sie, und die religiös-moralische Werthaftigkeit protektiver Eifersucht per se ins Feld, um für eine gezielte Steigerung positiver Eifersucht bei ihrem Mann zu werben. Ursula grenzt diese wünschenswerte Eifersucht klar ab von einer nichterwünschten Eifersucht, die bloss zum Gegenstand hat, dass ihr Mann es persönlich ärgerlich findet, wenn sie eng mit anderen Männern kommuniziert.

Marco sagt dazu bei anderer Gelegenheit, dass es in einer mehrheitlich nichtsalafitisch geprägten Gesellschaft schwer für ihn als Mann sei, wünschenswerte protektive Eifersucht zu entwickeln:

Da schwimmst du ja auch gegen den Strom, nicht wahr […] Für mich ist noch schwierig, nicht zu schmollen, wenn Ursula eben so viel rausgeht und auch alle ihre Stimme16 hören zum Beispiel. Aber ich muss da eben nicht schmollen, sondern was dafür tun, dass das nicht mehr so ist und sie geschützter ist. Darum geht es ja eigentlich. (Marco)

Er sei aber in einem Prozess, eine solche protektive Eifersucht zu kultivieren, dass er möglichst im Einklang mit den Vorbildern der ersten muslimischen Generationen stehe – auch wenn er damit in der Schweiz «gegen den Strom» schwimme, was sein Verständnis dessen betreffe, was er von seinen Frauen an Einschränkungen des öffentlichen Umgangs mit anderen Personen verlange: «Aber das wollen sie [Martina und Ursula] ja auch so.» Er hält eine zunehmende protektive Eifersucht auch für ein Motivationselement, was sein eigenes berufliches Vorankommen betrifft: Wenn er mehr Geld verdiene, sei Ursula immerhin nicht länger gezwungen, noch arbeiten zu gehen. Er könne dadurch die Grundbedingungen dafür schaffen, dass protektive Eifersucht im konkreten Sinne eines Einschränkens ihrer Kontakte zu Männern überhaupt lebbar sei. Das wiederum würde «so eher alberne Eifersucht und Schmollerei», wie er es nennt, dämpfen – weil einerseits die Gelegenheiten abnähmen, in denen sie mit fremden Männern sprechen müsse, und weil andererseits sein Selbstbild als Mann gestärkt sei, was ihn souveräner machen würde.

Denn dann erfülle ich ja auch, was ich sollte, nämlich dass ich für sie aufkommen kann […] Dann geht es ja mehr darum, so wie vorausschauend eifersüchtig zu sein und bestimmten Situationen vorzubeugen, und nicht nur rumzumeckern. Damit geht es mir dann besser, das weiss ich. (Marco)

Bis er komplett für Ursula aufkommen kann, will er im Rahmen seiner Möglichkeiten seine Gefühle adjustieren: Wenn er «schmolle» und damit auf selbstbezogene Art eifersüchtig sei, wolle er sich emotional zunehmend auf seine Sorge um ihr Seelenheil konzentrieren, das gefährdet sein könnte – und weniger auf den ursprünglichen Wutauslöser, der zurzeit offenbar oft in Phantasien besteht, wie sie mit anderen Männern lachen oder ihnen verheissungsvoll über den Arm streichen könnte. Das Händeschütteln, ebenfalls Teil ihres Berufs in einem deutschschweizerisch geprägten Umfeld, stört ihn weniger – er glaubt aber, es sollte ihn als frommen Ehemann mehr stören. Das Thema wird auch in Foren und Blogs des Öfteren aufgegriffen. Ein digitaler Beitrag, der Marco einige Tage lang nachging, wie er sagt, war der folgende:

Solcher kommt und gibt deiner Frau die Hand, während du ihn, wie eine stumme Ziege ansiehst. Nein, Ziegen sind besser als du! Er gibt ihr die Hand so, er bewegt ihre Hand und sieht sie dabei an. Maa schaa Alllah, er genießt es sie anzufassen und betrachtet sie, wie ein Bulle. Wo ist deine Männlichkeit? Wo ist deine Eifersucht? Wo ist deine Religion? (1wissen2taten3dawah.wordpress.com 2015)

Marco beabsichtigt also nicht etwa, eifersüchtige Impulse ersatzlos zu entschärfen und abzubauen, so wie es seine Frauen bisweilen dann versuchen, wenn sie aufeinander eifersüchtig sind. Stattdessen möchte er ein impulshaftes Gefühl der selbstbezogenen Eifersucht religiös-moralisch umdeuten, indem er die angenommene kausale Grundlage der Empfindung modifiziert: Von Selbstunsicherheit hin zu Sorge um seine Frauen und ihr Seelenheil. Dies würde eine Umwandlung in «gute» Eifersucht und letztlich die Erfüllung eines religiös erwünschten Wertes bedeuten, was zudem seinem Rollenideal als frommem Ehemann besser entspräche.

Fazit

Die am Beispiel vom Umgang mit Eifersucht beschriebene Form der Gefühlsregulation – einerseits als religiös-moralischer Imperativ, andererseits als alltägliche Praxis – bedeutet für viele SalafitInnen im deutschsprachigen Raum einen zugleich religiös unverzichtbaren und subjektiv bereichernden Aspekt ihres Lebens. Das Evaluieren und Abdämpfen eigener Impulse und Gefühle ist dabei sowohl vorausgesetztes Gebot eines religiösen Erwünschtheitskanons als auch handlungsanleitendes Mittel sowie anzustrebendes Ziel. Das Zwischenschalten religiös inspirierter Werte- und Selbstevaluationsstrategien führt dem Verständnis und dem Empfinden vieler Salafis nach nicht nur zu einem gottgefälligen Leben, sondern auch zu gelungenerem partnerschaftlichem Miteinander, zu gesteigerter Männlichkeit bzw. Weiblichkeit, und zu mehr individueller Ausgeglichenheit.

Die distanzierende, abwägende Forderung der beschriebenen feeling rules (Röttger-Rössler et al. 2015) ist dabei in einem weitgespannten Netz von Regulationsimperativen betreffend Nähe und Distanz zu verorten, das typisch für salafitische Religiosität ist. Weitere Nähe-Distanz-regulierende Normen betreffen beispielsweise Berührungs- und Blickkontaktregeln,17 Gender-Sphären und damit verbundene Kleidungspräferenzen18 oder auch Regeln über die Beziehungsqualitäten, die zwischen Salafis und Nichtsalafis als wünschenswert beziehungsweise unerwünscht gelten.19

Ich halte Distanzierungs- und Mittelbarkeitselemente, auch und besonders emotionsbezogene, für ein wesentliches Charakteristikum salafitischen Glaubens, Erlebens, Handelns und Denkens. Mittelbarkeit wird hier nicht in erster Linie verstanden als Element von Religiosität, das Mittelspraxen zwischen Göttlichem und Nichtgöttlichem beinhaltet (siehe Robbins 2017 für eine Übersicht über ethnologische Verständnisse von Religion in dieser Hinsicht), sondern als Form des regelbezogenen Umgangs einer (salafitischen) Person mit der Welt, mit den eigenen Gefühlen und mit den Mitmenschen, der sich wie eine Schutzschicht zwischen den Glaubenden und alles potentiell Bedrohliche, weil als gottesfern Erlebte, legt. Eigene spontane Gefühle fallen dabei in die Kategorie des potentiell Bedrohlichen und sind darum prinzipiell religiös zu evaluieren, sowie gegebenenfalls entsprechend zu modifizieren.

Nähe-Distanz-Austarierungen unter Rückgriff auf religiöse Mittelbarkeitskonzepte bestimmen bei meinen ForschungspartnerInnen also nicht nur die Beziehung zwischen Individuum und sozialer Umgebung, was Robbins (2017; s. auch Robbins 2019) anderswo zurecht als eine wichtige Wirkung von Religionskonzepten identifizierte. Nähe-Distanz-Auslotungen bestimmen ausserdem die Beziehung zwischen einer Person und ihren eigenen Emotionen, Erlebnissen und Bewertungen – also zwischen einer Person und ihr selbst. Gefühle, die zu “objects of moral assessments” (Cassaniti 2014, 280) werden, können dabei bereits im Zuge dieser moralischen Bewertung umgedeutet oder aber durch eine mit ihnen verknüpfte Handlung respektive eine aufwändigere, veränderte Gefühlsbewertungsanstrengung modifiziert werden.

Im Gegensatz zu anderen ebenfalls dezentralen, basisgetragenen und literalistischen religiösen Gruppen wie Pfingstkirchen (Meyer 2010) scheinen auch in Moscheengemeinschaften tief verwurzelte deutschschweizer Salafis sich seltener offensichtlich und relativ spontan erfüllt zu fühlen von als religiös induziert verstandenen Emotionen und sinnlichen Erlebnissen. Stattdessen müssen sie sich durch «korrekte» und intensive Religiosität erst den Weg zu religiös richtigem Fühlen bahnen.20 Gefühle sind somit spürbarer Gradmesser des rechten Glaubens, Optimierungsfeld des Glaubenden, und – mit zunehmender Selbstregulation – spontaner Erfahrungsraum des eigenen vermuteten Rechtglaubens, der nämlich dann angenommen wird, wenn das eigene Empfinden irgendwann akkurat mit religiösen Idealen zusammenfällt. All diese Dimensionen und die zu ihnen gehörigen Evaluations- und Regulationsprozesse wiederum werden als erdend, stabilisierend, ausgleichend erlebt. Kurz: Das moralisch-religiös Gute und das Sich-gut-Anfühlende fallen für viele Salafis in der Dimension des religionsspezifischen Emotionsmanagements zusammen, und das verwurzelt sie in ihrer Glaubensweise. Dieses Emotionsmanagement ist wiederum eine wichtige Facette jener vielfältigen Mittelbarkeiten und Nähe-Distanz-Auslotungen, die salafitische Religiosität wesentlich ausmachen.

Literaturverzeichnis

Ich verweise bei online-Referenzen oft auf die Namen von Websites, nicht auf AutorInnen. Das hat den Grund, dass in diesem Forschungsbereich 1. die AutorInnennamen auf Websites nicht unbedingt aussagekräftig bzw. eindeutig sein müssen und 2. einzelne Gruppierungen oft mehrere Websites/Kanäle betreiben, die nicht unbedingt inhaltlich deckungsgleich sind. Eine Website zu benennen erscheint darum klarer als die Angabe eines eventuell vermerkten AutorInnennamens oder AutorInnenkollektivs.

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Wagemakers, Joas. 2018. «Salafism or the Quest for Purity.» Oasis, 26. Juli 2018. Abgerufen am 1. Juli 2020. https://www.oasiscenter.eu/en/what-is-salafism-quest-for-purity

Wagemakers, Joas. 2012. «‹Seceders› and ‹Postponers›? An Analysis of the ‹Khawarij› and ‹Murji’a› labels in Polemic Debates between Quietists and Jihadi-Salafis.» In Contextualising Jihadi Thought, herausgegeben von Jeevan Deol und Zaheer Kazmi, 145–164. London: Hurst.

Dank

Mein Dank gilt zunächst meinen salafitischen ForschungspartnerInnen, die trotz anfänglicher Zweifel Vertrauen fassen mochten und mir Einblicke in ihren Alltag gewährten. Danke an das Religionswissenschaftliche Seminar der Universität Zürich und an die DFG für vielfältige Unterstützungen, die ein auf mehreren Ebenen nicht ganz unheikles Projekt wie dieses gelingen liessen. Ausserdem möchte ich mich bei den anonymen Gutachtenden sowie bei Sibylle Lustenberger bedanken, deren sorgfältige und präzise Rückmeldungen dem Artikel gutgetan haben.

Notes

  1. Als salafitisch bezeichnete Gruppierungen und Personen im deutschsprachigen Raum umfassen ein weites Spektrum islamischer Ausrichtungen. Die allen gemeinsame enge Orientierung an den salaf salih, d. h. den ersten Generationen der Muslime, und ihr Bestreben, zu einem «reinen» Islam zurückzukehren, führen zu von Gruppe zu Gruppe unterschiedlichen Glaubens- und Lebensvorstellungen sowie zu verschiedenen religiösen und politischen Praktiken (Meijer 2009). Diese Unterschiede rühren u. a. daher, dass die jeweiligen Vorstellungen von einem authentischen und reinen Islam der Frühzeit divergieren (Wagemakers 2012). Dezidiert salafitische Themen und Motive sind die intensive Beschäftigung mit Loyalität und Lossagung im Alltag, die intensive (und verschiedentlich ausgestaltete) Suche nach authentischen Handlungen im Sinne der religiösen Gründergenerationen, die Betonung literalistischer Auslegungen von qur’anischen und hadithbezogenen Grundlagen, sowie die jeweils strömungsspezifischen Verständnisse von Glauben und Unglauben (Wagemakers 2018; Damir-Geilsdorf, Hedider und Menzfeld 2019).

  2. Siehe bspw. Skoggard und Waterston (2015) zu Möglichkeiten und Grenzen von Feinunterscheidungen der Begriffe Emotionen, Empfindungen, Stimmungen, Gefühle, etc. Im Rahmen des vorliegenden Artikels verwende ich Termini wie «Gefühl» und «Emotion» austauschbar, da dies einerseits dem Sprachgebrauch meiner salafitischen GesprächspartnerInnen entspricht, und da andererseits eine analytische Differenzierung in diesem Kontext nur einen überschaubaren Mehrwert verspräche.

  3. Ich befasse mich an dieser Stelle nicht mit sog. “sacred emotions” (Emmons 2005, 239), also Gefühlen, die durch Religiosität erst erfahrbar werden oder die überwältigend intensiv aufkommen, wenn an die zugeschriebenen Eigenschaften eines transzendenten Wesens oder seine vermeintliche Nähe unmittelbar gedacht wird – obwohl auch solche Emotionen für Salafis eine Rolle spielen können (vgl. Abu Abdallah 2010 für ein Beispiel).

  4. Gendersensible Formulierungen folgen in diesem Text der kontextuellen Angemessenheit. Salafis gehen von genau zwei klar definierten sozialen Geschlechtern aus, die sich an den primären physischen Geschlechtsmerkmalen orientieren. Wer sich in dieses Raster nicht einzuordnen versuchte, würde einem wesentlichen Element salafitischer Weltbilder widersprechen und einem salafitischen Glaubenspfad nur noch bedingt folgen. Umgekehrt: Wer an solch einem Geschlechtermodell zweifelt, wird sich kaum als Salafi betrachten wollen. Entsprechend werden sie mit Rücksicht auf ihre emischen Geschlechterannahmen binär gegendert.

  5. Finanziert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, Projektnummer 420579519, Gastinstitution: Religionswissenschaftliches Seminar der UZH.

  6. Nora Illi war eine der prominentesten salafitischen Aktivistinnen der Schweiz und über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Sie verstarb im Laufe der Feldforschung für diesen Artikel im März 2020 mit 35 Jahren an Brustkrebs.

  7. Islamischer Zentralrat Schweiz; Verband, der als von verschiedenen salafitischen Gruppen mitbeeinflusst gelten kann. Er repräsentiert allerdings keineswegs die Mehrheit der Schweizer SalafitInnen. Die meisten meiner salafitischen GesprächspartnerInnen standen dem IZRS kritisch bis themenabhängig kritisch gegenüber. Dennoch setzt der IZRS in der Schweiz durch starke social-media-Präsenz Themen auch in den salafitischen communities, die ihn ablehnen. Zum Zeitpunkt der hier ausgewerteten Feldforschungen war infolge von kontroversen medialen Positionierungen des IZRS gegenüber Sexualität, Polygynie und Ehe dieser Themenbereich einmal mehr aktuell (IZRS 2020).

  8. Eifersuchtsdiskurse gibt es auch in und zu postmodern-säkularen polyamoren Beziehungskonstrukten. Diese weichen jedoch in Ausgangsmotivation und Ausgestaltung stark von salafitischen Mehrfachbeziehungsmodellen ab. Zu Deutungen von Eifersucht im polyamoren Kontext siehe bspw. Riedl (2018).

  9. Artikel 215 StGB CH: «Wer eine Ehe schliesst oder eine Partnerschaft eintragen lässt, obwohl er verheiratet ist oder in eingetragener Partnerschaft lebt (…) wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.»

  10. Muhammad hat bis auf eine seiner Frauen ausschliesslich Geschiedene und Verwitwete geheiratet. Salafis begründen das unter anderem damit, dass er Verwitwete und Geschiedene nicht unversorgt und schutzlos sich selbst überlassen mochte.

  11. Vgl. für tiefergehende Einblicke in salafitische Geschlechternormen innerhalb ehelicher Gemeinschaften beispielsweise al-Fawzan 2017; quranundhadith.com o. A.; 1wissen2taten3dawah.wordpress.com 2016; abukhadeejah.com 2014.

  12. Siehe Schielke (2009) für ein Beispiel dafür, dass die Vereinbarkeit von religiösen Idealen und alltäglichem Tun und Sein auch in muslimischen Mehrheitsgesellschaften nicht unbedingt selbstverständlicher gelingt.

  13. Die angesprochene Schamhaftigkeit (ḥaya) ist im salafitischen Kontext deutlich positiv konnotiert und wird als Gefühl, aber auch als Handlungsideal konzeptualisiert. Schamhaftigkeit zeigt sich u. a. durch Vorsicht und maximale Distanz im Umgang von Frauen mit Männern, die nicht miteinander verheiratet sind und füreinander nicht in die Kategorie mah. ram fallen (d. h. in einem Verwandtschaftsverhältnis zueinander stehen, das Heirat und Sex miteinander ausschliesst, bzw. vor denen Frauen ihre als intim verstandenen Körperbereiche – die ʿaawrat – nicht üblicherweise bedecken). Schamhaftigkeit bedeutete für die meisten meiner Feldkontakte beispielsweise, die Blicke zu senken vor fremden Frauen oder Männern, sich nicht alleine mit Männern oder Frauen zu treffen ohne Heiratsabsicht, fremden Frauen oder Männern nicht die Hände zu schütteln und ihnen nicht in die Augen zu sehen.

  14. An (eventuellen) späteren Partnern, weil es – so bekam ich es einmal erklärt – eine unnötige Beleidigung und Herausforderung beispielsweise des künftigen Ehemanns einer Frau wäre, seine Gattin schon vor ihrer Heirat je entehrend angeschaut zu haben. Man habe sich durch diesen Blick ein inneres sexualisierendes Bild von ihr sozusagen angeeignet, obwohl man hätte wissen können, dass es einen späteren Ehemann geben würde, der wollen würde, dass sich vor ihm möglichst niemand seine Frau auf diese Weise angeeignet hätte.

  15. Dies resoniert u. a. mit einem Text, der in verschiedenen englisch- und deutschsprachigen Salafiforen kursierte und kursiert, und der vielen ForschungspartnerInnen bekannt war sowie von ihnen geschätzt wurde. Darin heisst es beispielsweise: «Seid dankbar dafür, dass euer Ehemann so ein schönes Mass an Ghirah für euch hat und dass er euch schätzt und euer Jenseits fürchtet.» (s. bspw. ahlu-sunnah.net o. A.).

  16. Für einige Salafis ist die weibliche Stimme Teil der ʿawra, also der Körperteile und -eigenschaften, die eine Frau nicht öffentlich entblössen sollte.

  17. Vgl. bspw. Inge (2017); besonders zwischen Männern und Frauen, die weder verheiratet sind noch aus der Gruppe derjenigen Personen stammen, mit denen ein Eheverbot besteht.

  18. Vgl. hierzu auch Olsson (2020), Piela (2019); es geht dabei um Ideen zu angemessenen Bewegungsräumen für Frauen, auch um das Bedecken bestimmter Körperteile in der Öffentlichkeit.

  19. Vgl. auch de Koning (2013a), Damir-Geilsdorf et al. (2019). Solche Reglements betreffen zum Beispiel Freundschaften zu Nichtmuslimen oder das Beten neben salafitischen Personen einer abweichenden Glaubenspraxis als der eigenen.

  20. Obwohl beispielsweise auch Weinen vor religiöser Ergriffenheit nicht selten vorkommt, erfolgt dies meist forciert und entspricht der Erfüllung einer erlernten display rule; vgl. bspw. Abu Abdallah (2010) für ein Beispiel sorgsam kultivierten Trauerns und Weinens vor grossem Publikum. Es spielt hierbei aber eine Rolle, dass das Weinen aus den «richtigen» religiösen Gründen heraus geschieht.