Einleitung
Ein wesentlicher Aspekt menschlichen Handelns ist es, Emotionen hervorzurufen, abzurufen
und zu kanalisieren. Das gilt auch und gerade für religiöse Kontexte: Zum Beispiel
im Fall der kontemporären mitteleuropäischen Salafiyya, mit der sich der vorliegende
Text näher befassen wird. Viele Salafis1 realisieren religiös konnotierte Gefühlsregulationsangebote in Form einer bewussten
Zwischenschaltung religiös-moralischer Evaluationen von Affekten und Stimmungen, der
sie sich regelmässig im Alltag widmen, die aber besonders konzentriert vollzogen wird,
wenn sich intensive Gefühle jedweder Art ankündigen. Diese Zwischenschaltung kann
inter- und/oder intrapersonell ablaufen, im Austausch mit anderen oder im Stillen
erfolgen. Sie referiert aber auch im Fall eines vornehmlich intrapersonellen Vollzugs
stets auf einen als gottgewollt interpretierten Normenkanon, und erstrebt das Wohlwollen
einer göttlichen Instanz.
Eine solche religiös inspirierte Emotionsevaluation ist darum grundsätzlich triangulativ:
Sie bezieht sich zumindest vorübergehend explizit auf etwas Extrinsisches, und mindestens
die angenommene Gottesgegenwart ist das Gegenüber. In diesem Artikel möchte ich anhand
eines Fallbeispiels aus einer polygynen salafitischen Ehe aufzeigen, wie solche Emotionstriangulationen
im Falle protektiver und destruktiver Eifersucht stattfinden können.
Es ist zunächst keine originelle Einsicht, dass Glauben, Gefühle2 und Moral eng zusammenhängen. So zeigte beispielsweise Julia Cassaniti (2014) die enge Verwobenheit religiös-moralischer Bewertungen, Emotionsbewertungen, gezeigter
Emotionen und Gefühlsintensitäten in Thailand auf. Cassaniti charakterisiert dabei
Gefühle als wesentlich für das Verstehen von religiösem Erleben und von Alltagsmoral;
Emotionen betrachtet sie in ihrer Analyse erwähnenswerterweise “less as the underpinning
of moral judgments and more as objects of moral assessments” (Cassaniti 2014, 280). Hierbei klingt an, was anderswo zum Beispiel (Röttger-Rössler et al. 2015; Röttger-Rössler und Markowitsch 2009) als feeling rules (Röttger-Rössler et al. 2015, 187) adressiert wird: Bestimmte Normen oder Leitlinien, die besagen, welche Gefühle
in welcher Intensität erwünscht oder unerwünscht beziehungsweise allgemein moralisch
vertretbar sind. Solche feeling rules können sich unter anderem in display rules (Röttger-Rössler et al. 2015, 189) – also: wie, wann und warum zeige ich idealerweise wem welche Gefühle (nicht)?
– äussern, aber auch in einem subjektiv intensiveren beziehungsweise weniger intensiven
Wahrnehmen von bestimmten Gefühlen niederschlagen.
Genau solche religiös begründeten feeling rules unter SalafitInnen werden Thema des folgenden Artikels sein, der damit einen Beitrag
zu ethnologischen Auslotungen des Nexus von Glauben, Gefühlen und Moral leistet.3 Im Laufe einer Feldforschung mit Salafis in der Schweiz begegnete ich Personen, die
religiös grundierte Emotionsregulationsstrategien als eine wesentliche Quelle von
Selbstberuhigung, Selbstentwicklung und Seelenfrieden bezeichneten. Auch wenn ihnen
nicht jede konkrete, in ihrer Glaubensinterpretation religiös gebotene Emotionsregulation
grundsätzlich leichtfiel, hielten sie sich doch für religiös und zugleich zugunsten
ihres eigenen Wohlbefindens verpflichtet, Gefühle auf ihre moralische Adäquatheit
und Erwünschtheit zu prüfen, bevor sie sie umfänglich zur Kenntnis nahmen oder ausdrückten.
Diese Qualität salafitischer Glaubensalltage geht über die bereits präzise beschriebenen
Bemühungen vieler Salafis um ein religiös-moralisch richtiges Leben (de Koning 2013a; 2013b; Mahmood 2005) hinaus – wenngleich beide Selbstregulationsweisen mitunter eng miteinander zusammenhängen
und religiös ähnlich begründet werden.
Ich halte Emotionsregulationsstrategien für einen wesentlichen konversionstreibenden
wie auch glaubensstabilisierenden Faktor, der bislang in der Forschung zu SalafitInnen4 zu wenig Beachtung erhält. Es ist aber essentiell, Gefühlsregulationsstrategien zu
bemerken und ihre Wichtigkeit anzuerkennen, um Salafis in Europa umfassend zu verstehen.
Akteur:innen in Deradikalisierungs- und Präventionsprogrammen und Wissenschaftler:innen
erwägen als wichtige Gründe für salafitische Personen, Salafi geworden zu sein, häufig
etwa: Einen mutmasslichen Strukturbedarf der Glaubenden, eine Fokussierung auf vermeintlich
letzte Wahrheiten, attraktive Gemeinschaftlichkeit in den puristischen Moscheegemeinden,
maskulin-kriegerische Rollenangebote bei den Jihadis, vermeintlich stets klare Genderrollen,
und vieles mehr (vgl. Dantschke 2014; Dziri und Kiefer 2018; Eser Davolio 2017; Nuraniyah 2018; Olsson 2020; Poljarevic 2016; Vidino 2013). Damit haben sie oft auch recht. Aber verblüffend selten wird die intensive Zufriedenheit
und das Sicherheitsgefühl thematisiert, die auf die Dämpfung und Readjustierung von
Affekten zurückzuführen sind, wobei Letztere in salafitischen Kontexten durchaus klar
gefordert werden. Genau diese Regulationen und ihre Effekte machten allerdings in
den Begegnungen, die ich in den vergangenen Jahren mit Salafis hatte, einen nicht
unwesentlichen Teil privater salafitischer Glaubenserfahrungen aus. In diesem Text
soll darum das salafitische Alltags-Gefühlsmanagement im Mittelpunkt stehen.
Der folgende Abschnitt widmet sich methodischen Fragen. Anschliessend führe ich kurz
in den Themenbereich Emotionsaushandlungen und Eifersuchtsbegriffe unter Salafis ein.
Ein weiterer einordnender Abschnitt kontextualisiert knapp die rechtlichen Rahmenbedingungen,
die religiös begründeten Eheverständnisse und die salafitischen Gendernormen, innerhalb
derer sich polygyn lebende deutschschweizer Salafis bewegen. Danach präsentiere ich
im Hauptteil ein Fallbeispiel, das sich auf konkrete Eifersuchtsbewertungen unter
polygyn lebenden Salafis konzentriert. Am Schluss werden die gewonnenen Einblicke
zusammengeführt und emotionale Mittelbarkeiten als ein wesentliches Attraktionsmoment
der kontemporären europäischen Salafiyya identifiziert.
Methodisches
Die hier präsentierten Ergebnisse erarbeitete ich im Rahmen des Projekts «Deutschsprachige
SalafistInnen in der Schweiz: Skizze der gegenwärtig präsenten Spektren und Analyse
ihrer moralischen Aushandlungsprozesse»5. Der Forschung gingen mehrjährige Arbeiten zu und mit Salafis in Deutschland voraus.
Die illustrierenden Originalzitate habe ich aus lokaler Mundart ins Hochdeutsche übertragen.
Alle Namen wurden anonymisiert und, wenn es notwendig schien, auch biographische Besonderheiten
verändert. Dies geschah hinblicklich der Wünsche meiner Feldkontakte, aber ebenso
als ethisch gebotene Massnahme: Denn auch Salafis, die ihren Glauben vor allem privat
leben möchten und weder politisch noch gar gewalttätig aktiv werden, haben bei Klarnennung
oder Identifizierbarkeit möglicherweise mit behördlicher Ansprache und Beobachtung
sowie sozialer Ächtung zu rechnen.
Auswahl der ForschungspartnerInnen und Kontaktaufbau
In der Schweiz kann von einer niedrigen bis mittleren vierstelligen Zahl an Salafis
ausgegangen werden (Einschätzungsgrundlage: eigene Forschung 2019–2021), die verschiedensten
Subströmungen angehören oder keinem Spektrum eindeutig zuzuordnen sind, und die meistenteils
nicht fremdgefährdend agieren und dies auch nicht anstreben. Verlässliche Statistiken
gibt es nicht, da Salafis sich nirgends als solche registrieren und gerade islamische
Strömungen vonseiten staatlicher Stellen vorrangig unter dem Blickwinkel ihrer angenommenen
Gefährlichkeit erfasst und kategorisiert werden. Offizielle Zahlen geben damit zwar
recht präzise an, wie viele Menschen die zuständigen Behörden als (potentielle) Jihadis
oder als demokratiefeindliche Muslime kategorisieren; aber sie sagen nichts darüber
aus, wie viele Menschen welchen salafitischen Glaubensvorstellungen folgen. Hinzu
kommt, dass viele Salafis sogenannte Jihadis oder takfiris gar nicht als Salafis betrachten (und umgekehrt). Dies wird meist mit theologischen
Unvereinbarkeiten begründet, je nach Untergruppe können solche trennenden Punkte sein:
das Strafen mit Feuer, die tazkiya (hier etwa: Referenz/Empfehlung, von einem anerkannten Experten in Glaubensfragen
und bezogen auf theologische Kompetenzen) auch für und durch militärische Befehlshaber,
Übertreibung und damit religiöse Neuerung, etc. Jihadis und Salafis können also keinesfalls
als Synonyme betrachtet werden.
Im Rahmen meiner Forschung konzentrierte ich mich auf die übergrosse Mehrheit an Salafis,
die nicht gewalttätig sind oder werden wollen. Ich führte Teilnehmende Beobachtungen
in verschiedenen Glaubensgruppen und religiösen Zirkeln durch und nahm an salafitischen
Workshops teil. Ausserdem fanden Interviews mit Einzelpersonen, Paaren, Kleingruppen
und Familien statt. Wichtigste Einschlusskriterien waren, dass potentielle ForschungspartnerInnen
a) volljährig waren; b) nach ihrem eigenen Verständnis in besonderer Weise an den
ersten drei Generationen von MuslimInnen orientiert lebten; c) eine besonders literalistische
Auslegung von Qur’an und Hadith vertraten; d) eine bestimmte Glaubensmethodik bzw.
Glaubensausübung (manhaj) verfolgten, die eng mit spezifischen religiösen Konzepten und Prioritäten zusammenhängt,
welche als salafitypisch gelten können. Beispiele für solche Konzepte sind Loyalität
und Lossagung, oder auch ein besonderes Verständnis der Einheit Gottes (s. weiterführend
Wagemakers 2018, zum Problem der eindeutigen Eingrenzung salafitischer Beforschtengruppen s. Damir-Geilsdorf und Menzfeld 2020).
Salafitische ForschungspartnerInnen gewann ich teils über Kontakte aus früheren Forschungen,
teils durch persönliche Empfehlungen nach Art eines Schneeballsystems. Die in diesem
Text vorgestellten ForschungspartnerInnen vermittelte mir eine Frau, die ich an einer
halbprivaten Veranstaltung kennengelernt hatte, an der Partnersuchende und junge Eheleute
unter anderem einen Auffrischungs-Workshop zu salafitischen Eheidealen besuchen konnten
– dort war auch Polygynie ein intensiv debattiertes Thema. Die unten beschriebenen
Einblicke gewann ich durch langandauernde informelle Kontaktpflege, halbstrukturierte
Einzelinterviews, Interviews in wechselnden Konstellationen mit zwei und mit allen
drei Mitgliedern der Ehegemeinschaft, sowie (in shutdown-Phasen während der Coronapandemie)
durch Videochats und schriftliche Messenger-Unterhaltungen.
Ich habe mich entschieden, im Artikel auf ein Fallbeispiel zu fokussieren, weil ich
überzeugt bin, dass sich die besonderen Formen salafitischer Gefühlsregulationen und
ihre Binnenlogiken anhand eines einzelnen und dafür dicht beschriebenen Beispiels
besonders gut nachvollziehen lassen. Deutschschweizer polygyne Salafi-KonvertitInnen
wie das weiter unten vorgestellte Trio sind dabei ein Spezialfall unter polygyn lebenden
Muslim:innen weltweit, der nicht ohne Weiteres dazu dienen kann, Rückschlüsse auf
die Realitäten und Dynamiken polygyner Konstrukte im Allgemeinen zu ziehen. Im Rahmen
genau dieses lokalen salafitischen Kontexts aber sind Erfahrungen und Annahmen, wie
sie im Fallbeispiel vorgestellt werden, durchaus breit nachvollziehbar sowohl für
selbst polygyn lebende Salafis als auch für nicht polygyn lebende Salafis. Darum halte
ich es für sinnvoll und vertretbar, den geschilderten Fall als pars pro toto-Beispiel für salafitische Gefühlsregulationsstrategien anzuführen.
Anmerkung zu genderbedingten Potenzialen und Einschränkungen
Während es mir als nichtmuslimischer Forscherin in diesem Feld relativ umstandslos
gelang, offene und vertrauliche Gesprächsebenen mit salafitischen Frauen zu etablieren,
dauerte es deutlich länger, vergleichbare Austauschqualitäten mit salafitischen Männern
zu entwickeln. Das ist nicht typisch für die Arbeit einer weiblichen Forschungsperson
mit Salafis. Im Gegenteil: In vorherigen Projekten beispielsweise in Deutschland konnte
ich einfacher Kontakte zu salafitischen Männern herstellen und halten, und auch private
Themen besprachen Salafi-Männer durchaus – Salafitinnen hingegen weniger oft und weniger
bereitwillig. Das war der Fall, obwohl es nach salafitischer Auffassung weitaus problematischer
ist, wenn ein Mann mit einer unbedeckten fremden Frau persönliche Gedanken austauscht,
als wenn stattdessen zwei Frauen beteiligt sind.
Ich gehe davon aus, dass die unerwartet erfolgreichen Zugänge zu salafitischen Frauen
im Gegensatz zu salafitischen Männern in der Deutschschweiz schlicht damit zusammenhingen,
dass ich häufiger durch Frauen anderen Frauen vorgestellt wurde, als es in Deutschland
der Fall war. In Deutschland hingegen bauten sich meine Kontaktnetzwerke häufiger
über einen Erstkontakt zu einem Mann mit gewisser gruppeninterner Autorität auf.
Vor diesem Erfahrungshintergrund vermute ich, dass für weibliche Forschende in salafitischen
Umgebungen nicht so sehr das eigene Gender zu bestimmen scheint, mit wem sie tiefgehende
Kontakte etablieren können – sondern vielmehr die Geschlechtszuordnung der Anfangskontakte
sowie, daraus folgend, der bevorzugte Zugang zu den je entsprechenden geschlechtsspezifischen
sozialen Netzwerken. Für männliche Kollegen verhält sich das anders: Sie erhalten
oft nur oder vor allem Zugang zu salafitischen Männern und haben Mühe, mit Frauen
in Kontakt zu kommen (de Koning 2018, persönliche Unterhaltung). Zumindest bei mitteleuropäischen
salafitischen (Re-)KonvertitInnen scheinen weibliche Forschende also weniger gender-bezogene
Restriktionen ihrer Forschungsfelder zu erleben.
Zu salafitischen Gefühlsaushandlungen und Eifersuchtsbegriffen
Die Bedeutung freiwilliger moralischer Selbstregulierung für Salafis stellten bereits
Arbeiten wie jene von Mahmood (2005) mit einem Fokus auf islamische Frömmigkeit in Ägypten, Schielke (2009) zu den Grenzen von Selbstregulationen und Idealentsprechungen salafitischer Ägypter,
Inge (2017) zu salafitischen Frauen in Grossbritannien und de Koning (2013a; 2013b) über Salafis in den Niederlanden fest. Sie alle zeigen, dass intersubjektive und
lebensbereichsübergreifende Dynamiken die Bewertung von Handlungen, Beziehungen und
Alltagsroutinen nach den Massstäben religiös-moralischer Normen wesentlich beeinflussen.
Sie machen ausserdem deutlich, dass selbst die vermeintlich klarsten religiös-moralischen
Regeln und Bewertungskriterien stets einer kontextspezifischen Auslegung bedürfen,
wobei diese Auslegung bisweilen hochgradig interaktiv und dialogisch erfolgen kann
(Chaplin 2018). Ausserdem zeigen bisherige Forschungen zu moralischen Selbstmodifikationen unter
Salafis, dass die Aneignung salafitischer Normen nicht ohne ein Mitdenken der Normen
und Lebensrealitäten der jeweiligen umgebenden (und nichtsalafitischen) Mehrheitsgesellschaft
verstehbar ist (Schielke 2009; 2010).
Auch in den Feldforschungsausschnitten, die ich weiter unten thematisieren möchte,
sind religiös-moralische Evaluationen und Disziplinierungen nichts gebrauchsfertig
Übernehmbares oder gar Oktroyiertes, sondern etwas, das kontextspezifisch je neu erschlossen
werden muss. Allerdings ist im Fallbeispiel das Moment zwischenmenschlicher Dialogizität
stark heruntergeregelt: Evaluationen erfolgen selten in der Auseinandersetzung mit
anderen Salafis etwa in einer Gemeinde, und selten unter expliziter Rückbezugnahme
auf Normen der Mehrheitsgesellschaft, was sich etwa in Form einer verbalisierten Abgrenzung
gegenüber nichtsalafitischen Emotionsnormen ausdrücken könnte. Im Gegenteil eignen
sich viele meiner deutschschweizer ForschungspartnerInnen religiös-moralische Gefühlsregulationsstrategien
für sich, aber in intensiver Auseinandersetzung mit ihren religiösen Leitschriften
und einem vermuteten Willen Gottes an. Das dialogische Moment findet also auch bei
ihnen statt, allerdings mit einem angenommenen göttlichen Gegenüber.
Aus diesem Grund erschien es mir übrigens nicht völlig überzeugend, die beschriebenen
Emotionsregulationen vorrangig als Techniken des Selbst zu deuten. Die emisch enorm
dialogisch gedachte Bezogenheit auf ein göttliches Gegenüber, die den Selbstregulationen
zugrundeliegt, könnte durch eine foucaultianische Lesart zu stark in den Hintergrund
treten. Damit möchte ich aber nicht andeuten, dass ein solcher Ansatz allgemein wenig
nützlich wäre: Eine einleuchtende Möglichkeit, transgressive Potentiale muslimischer
(Nicht-)Praxen in nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaften auszuloten und sie als
Selbsttechniken zu analysieren, bietet beispielsweise Fadil (2009) an.
Dass deutschschweizer Salafis sich Emotionsregulationsprozesse seltener im zwischenmenschlichen
Austausch aneignen, liegt auch an der Verstreutheit von Salafis in der Schweiz. Nicht
wenige deutschschweizer Salafis stehen darum allenfalls in losem Kontakt zu ähnlich
Glaubenden, zum Beispiel nur dann, wenn sie religiöse Workshops oder unregelmässig
stattfindende Gesprächskreise in etwas entfernteren Orten besuchen. Im Alltag befassen
sie sich eher allein oder im Rahmen ihrer jeweiligen Partnerschaften mit religiösen
Normen und deren Umsetzung. Da im Falle der weiter unten vorgestellten drei SchlüsselinformantInnen
ausserdem persönliche Vorbehalte gegenüber den zwei halbwegs wohnortnahen Salafi-Gemeinden
eine Rolle spielen, finden ihre emotionsregulativen Anstrengungen sogar fast ganz
im Privaten statt.
Ein Gefühl, zwei Bewertungen: Gute und schlechte Eifersucht
Ein Emotionsspektrum, das Salafis insbesondere in Partnerschaftskontexten intensiv
bewerten und modifizieren, ist die Eifersucht. Eifersucht tritt für Salafis als protektive
oder selbstbezogene Eifersucht in Erscheinung – oder als «gute» und «schlechte» Eifersucht,
wie es meine ForschungspartnerInnen manchmal ausdrücken – und ist entsprechend unterschiedlich
zu handhaben. Die schützende Eifersucht lässt sich als gottgefälliges Gefühl und zugleich
als Vorsichtsmassnahme zur Vermeidung von Versuchungen, besonders von deplatzierter
sexueller Attraktion, beschreiben. Sie dient einerseits dem Schutz des Partners oder
der Partnerin, der oder die nicht in als sündhaft oder versuchend interpretierte Begegnungen
oder Blicke hineingeraten soll; andererseits aber auch dem Schutz des Seelenheils
anderer, die sich vom Anblick der unbedeckten oder aufreizend bekleideten Partnerin
oder des Partners mit dem engen Shirt und den knappen Badeshorts angezogen fühlen
könnten.
Im Feld wird die Formulierung «gute Eifersucht» oft austauschbar verwendet mit dem
Terminus ghira. Letzterer besitzt auch Begriffsnuancen wie Ehrempfinden, Ehre, und bezeichnet ausserdem
das Gefühl des Widerstrebens, wenn sich Unbefugte etwas aneignen, das ihnen nicht
zusteht (sondern der empfindenden Person). Ghira kann nicht nur als Gefühl, sondern zusätzlich als religiös-moralisches Ideal und
auch als einforderbarer Schutzmechanismus innerhalb einer Beziehung verstanden werden.
Salafis sind sich allerdings nicht einig darüber, ob eine maximale Steigerung und
Förderung der ghira als maximal positiv zu bewerten sei, oder ob eine übermässig gesteigerte ghira auch zu negativen Konsequenzen und Übertreibungen führen könne.
«Gute» Eifersucht kann, muss aber nicht verflochten sein mit anderen Gefühlen, die
ebenfalls religiös-moralischen Bewertungsnormen unterliegen oder gar als religiös
eingebetteter Wert an sich gelten. Ein Beispiel für einen wichtigen, mit protektiver
Eifersucht eng verknüpften religiösen Wert, der zugleich eine nah verbundene Emotion
und manchmal zudem eine display rule darstellt, ist die Schamhaftigkeit (ḥaya; dazu später mehr).
Eifersucht gegenüber anderen, die beispielsweise von Selbstunsicherheit oder Verlustängsten
herrührt und nicht als protektive Eifersucht eingeordnet werden kann, gilt es hingegen
zu bekämpfen. Diese Form der Eifersucht erkennen Salafis zwar als gewöhnliche emotionale
Regung beider Geschlechter an, aber nicht als wünschenswert oder gar gottgefällig.
Man soll «schlechte» Eifersucht nicht fördern, sondern im Zaum halten. Unter Umständen
wird das Ankämpfen gegen diese als nicht religiös begründbar oder erwünscht verstandene
Eifersucht sogar als Teil des persönlichen jihad an-nafs, also eines Kampfs gegen Selbstbezogenheit und destruktive innere Impulse (siehe
auch Gauvain 2013 zum Thema Seelenläuterung in der salafiyya) und als Weg zur schrittweisen Vervollkommnung der eigenen Glaubenspersönlichkeit
betrachtet, die wiederum maximale Gottgefälligkeit und einen Platz im Paradies zur
Folge hat.
Die konkrete Interpretation und Erwünschtheit eines jeweiligen Eifersuchtsgefühls
ist stets kontextabhängig. Sowohl protektive, gute als auch destruktive, schlechte
Eifersucht werden prinzipiell für alltägliche menschliche Regungen gehalten. Der Umgang
mit ihnen unterscheidet sich aber je nachdem, inwieweit sie in einer konkreten Situation
als im Einklang mit religiösen Emotionsempfehlungen und -werten übereinstimmen.
Ein Kontext, innerhalb dessen besonders scharfe Grenzen zwischen protektiver und destruktiver
Eifersucht gezogen werden, ist der Kontext polygyner Ehen (vgl. Illi 2018 für ein Beispiel)6. Medienwirksam durch den «Islamischen Zentralrat Schweiz» (IZRS)7 und hier insbesondere durch Frauen in leitenden Positionen in den letzten Jahren
wiederkehrend aufbereitet, war das Thema Polygynie im Laufe der Forschung immer wieder
Gegenstand von Gesprächen mit verschiedenen GesprächspartnerInnen. Insbesondere Salafis,
die bereits in polygynen Beziehungen leben, möchte ich im Folgenden in den Blick nehmen:
Anhand ihrer Aussagen und emotionalen Handhabungsleistungen lässt sich der Umgang
mit als protektiv respektive destruktiv verstandener Eifersucht gut veranschaulichen.8
Einordnendes zur Rechtssituation, zu Polygynie als selten realisiertem Ideal und zu
salafitischen gender-Normen
Im nächsten Kapitel werden drei polygyn lebende Menschen vorgestellt. Eine solche
Ehekonstellation ist in der Schweiz nicht nur aussergewöhnlich selten: Polygynie und
Polygamie allgemein sind sogar verboten (vgl. Artikel 215 StGB). Jede nach der Erstehe
durch eine:n Schweizer:in oder in der Schweiz geschlossene Ehe gilt als strafbar.9 Es ist also zunächst einmal zivilrechtlich gar nicht möglich, dass ein bereits verheirateter
Mann auf Schweizer Boden eine weitere Frau rechtsverbindlich heiratet. Eine rein religiöse
Trauzeremonie wiederum hat keinerlei rechtliche Bedeutung, solange ihr nicht eine
zivilrechtliche Trauung vorangeht (vgl. Stellungnahme Bundesrat 2012). Zwar gab es in den vergangenen Jahren Vorstösse zu Familienrechtsreformen (vgl.
Schwenzer 2013), die u. a. die Straftatbestände der Mehrehe neu bewerten sollten. Allerdings liefen
diese bislang ins Leere.
Dass die weiter unten vorgestellten Salafis Ursula, Martina und Marco sich als polygyne
Ehegemeinschaft betrachten, kann aus juristischer Perspektive in ihrem Heimatland
also schlicht nicht sein. Die Ehe Ursulas, der Zweitfrau, mit Marco ist nur in ihren
eigenen Augen und nach Meinung ihrer salafitischen Bekannten religiös gültig. Dieses
Konstrukt beinhaltet eine signifikante juristische Benachteiligung für Ursula, da
sie keinerlei Möglichkeiten hat, zum Beispiel im Scheidungsfall ähnliche Rechtsansprüche
anzumelden wie eine zivilrechtlich angetraute Ehefrau. Sie selbst rechnet aber nicht
damit, dass ihr salafitischer jetziger Ehemann sich je von ihr scheiden lassen könnte,
und geht davon aus, dass im Falle des Falles eine solche Scheidung nach islamischem
Recht vorgenommen würde – sie also keine zivilrechtliche Absicherung benötige, da
das islamische Recht sie ausreichend schützen werde.
Nicht nur in der Schweiz allgemein, sondern auch unter Schweizer SalafitInnen ist
eine tatsächlich realisierte polygyne Ehe eher selten. Zwar gestatten religiöse Beziehungsnormen
salafitischen Männern prinzipiell, bis zu vier Frauen zugleich zu ehelichen, aber
nur unter strengen Bedingungen. Der Mann muss angemessene und gleiche Lebens- und
Versorgungsbedingungen in emotionaler und finanzieller Hinsicht für alle Ehefrauen
bieten können und sie alle genau gleich behandeln – eine Aufgabe, die nahezu unerfüllbar
ist (vgl. Sure 4, 129; Sure 4, 3; s. auch abukhadeejah.com 2019). Entsprechend wenige Salafis trauen sich eine Mehrehe zu.
Andere wiederum glauben, dass sie die vielfältigen Herausforderungen einer Mehrehe
schultern können. Gründe, warum sie einer Mehrehe zuneigen, können vielfältig sein:
Beispielsweise, dass sie sich dadurch dem Vorbild Muhammads in seiner Sorge um Alleinstehende
näher sehen.10 Ebenfalls wird oft angeführt, dass die Mehrehe Männer und ansonsten unverheiratet
bleibende Frauen vom (religiös verbotenen) Konsum von Pornografie oder nichtehelichen
sexuellen Beziehungen abhalten könne. Polygynie sei ausserdem eine religiös erlaubte
Lösung für den Fall, dass ein Mann sexuelle Abwechslung wolle, aber nicht gegen das
Gebot innerehelicher Sexualexklusivität verstossen wolle; und sie mache es unwahrscheinlicher,
dass eine Frau zum sexuellen Vergnügen benutzt werde, ohne dass sie eine entsprechende
eheliche Absicherung erhalte (s. bspw. salafimanhaj.com 2014; vgl. auch abukhadeejah.com 2014, 2019).
Als in einer Ehe religiös wünschenswert und förderlich für die persönliche Zufriedenheit
betrachten die meisten Salafis ausserdem, wenn alle Beteiligten in vielerlei Hinsicht
komplementär gedachten Gender-Rollen entsprechen (vgl. bspw. Al-Fawzan 2017; 1wissen2taten3dawah.wordpress.com 2016; abukhadeejah.com 2014). Die individuelle Geschlechterrolle wird dabei binär an den
primären Geschlechtsmerkmalen des jeweiligen Menschen orientiert zu- und festgeschrieben.
Religiös begründete geschlechterspezifische Normen und Ideale wirken für alle Salafis
in zahlreiche Lebensbereiche hinein, auch wenn diese Normen teils unterschiedlich
interpretiert werden. Solche Normen regeln beispielsweise Kleidungsaspekte wie das
Verhüllen des männlichen und weiblichen Schambereichs oder Vorschriften zu Materialien,
die einem Geschlecht vorbehalten sind (beispielsweise Gold und Seide den Frauen).
Besonders sichtbar werden Gender-Normen in der normativen Verknüpfung von Mannsein
bzw. Frausein mit sehr verschiedenen Verantwortungsbereichen im alltäglichen Zusammenleben.
Innerhäusige Erledigungen und Kindererziehung obliegen normgemäss beispielsweise den
Ehefrauen; Ehemännern hingegen der finanzielle Unterhalt von Frau(en) und Kindern,
manchmal auch alle ausserhäusigen Besorgungen wie Einkäufe, ausserdem die moralisch-religiöse
Anleitung ihrer Familie.11
In der Realität salafitischer Alltage zeigen sich jedoch ungleich differenziertere
Aneignungen von religiös begründeten Geschlechterrollen.12 Auch genderspezifisches Handeln, das sich leicht bis moderat gegenläufig zu religiösen
Idealen darstellt, kommt vor: Beispielsweise wenn eine Frau erwerbstätig ist, um das
Familieneinkommen zu steigern, obwohl sie dem Ideal nach ganz auf den häuslichen Bereich
konzentriert bliebe. Solche Abweichungen werden aber nicht einfach kommentarlos gelebt,
sondern sorgfältig als von bestimmten qur’anischen Versen und Hadithen einigermassen
gedeckt gerechtfertigt und interpretiert. Beispielsweise sagt Marco, dessen Zweitfrau
erwerbstätig ist: «Es heisst, der Islam soll leicht sein. Allah will nicht, dass wir
es uns schwer machen. Es wäre gerade halt sehr schwer, wenn beide Frauen zum Beispiel
gar nicht mitverdienen». Solange die Absicht stimme, dass irgendwann alle seine Frauen
zuhause bleiben könnten, dann wäre es nicht so schlimm, wenn dieses Ideal gerade noch
nicht umgesetzt werde.
Zumindest nominell klare Geschlechterverhältnisse und ihre konkreten Konsequenzen
sind für KonvertitInnen wie die in diesem Text vorgestellten Personen Teil der Attraktion
ihres salafitischen Glaubens. Betonungen vermeintlich grundsätzlicher Geschlechterungleichheiten
nivellieren sich allerdings vor der stets übergeordneten Wichtigkeit des individuellen
Verhältnisses zu Gott – auch und gerade, wenn es um Emotionsregulationen geht. Frauen
wie Männer haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten nach einem religiös idealen Leben zu
streben; und Frauen wie Männer sind aufgefordert, Menschen zu korrigieren, die vom
rechten Weg abkommen. Es ist keinesfalls unüblich, dass gerade salafitische Männer
schon in der Eheanbahnungsphase klar beschreiben, inwiefern in Glaubensfragen die
Autorität des Ehemannes zugunsten einer Machthierarchie, die sich ausschliesslich
am besseren religiösen Beleg orientiert, zurückzustehen hat:
Sie soll mir gehorchen aber wenn ich fehlgehe, muss, sie mich korrigieren (…) Was
zählt ist das bessere [Glaubens-] argument aber wenn es nicht um argumente geht, soll
sie sanftmütig und gehorsam sein. (Originalschreibweise. Auszug aus einem Inseratstext einer Partnerbörse für Salafis,
abgerufen via WhatsApp, 11.02.2020)
Fallbeispiel: Martina, Ursula und Marco
Martina, Ursula und Marco sind Salafis, konvertiert, Mitte 30 und leben polygyn in
der Schweiz. Beide Frauen betrachten sich als religiös mit Marco verheiratet. Zivilrechtlich
gültig ist allerdings nur die Ehe von Marco und Martina, die auch im Standesamt geschlossen
wurde. Das ist für die drei allerdings kein grosses Thema, sagen sie: Vor Gott seien
sie eine durchaus legitime Ehegemeinschaft, und nur das bedeute ihnen etwas. Martina
hat mit Marco ein gemeinsames Kind. Ursula ist erst vor einigen Monaten in Martinas
und Marcos Leben getreten; sie ist geschieden, ihr Kind aus erster Ehe lebt bei ihr.
Nach einer Zeit des Alleinlebens ist sie eine Ehe mit Marco eingegangen.
Ursula und Martina haben jeweils eigene Wohnungen in einer Schweizer Mittelstadt,
wobei Ursula erst vor Kurzem in Martinas und Marcos Heimatort gezogen ist. Martinas
Eltern sind bereits verstorben und haben ihr eine Eigentumswohnung hinterlassen, die
sie mit ihrem und Marcos Kind bewohnt. Ursulas Wohnung bezahlt zu ungefähr zwei Dritteln
Marco. Zusätzlich arbeitet Ursula («noch», wie sie sagt, «wir wollen natürlich, dass
ich mich hier auf die Familie konzentrieren kann [und keiner Erwerbstätigkeit mehr
nachgehe]») und steuert damit ebenfalls einen Teil zu Miet- und Alltagsausgaben bei.
Martina ist nicht erwerbstätig, weil – wie sie sagt – «das Ziel ist, dass die Frau
machen kann, was ihre Aufgabe ist, Haus und Kinder erziehen und ein schönes Heim machen».
Marco lebt wechselweise bei Martina und seinem Kind, sowie bei Ursula und seinem Stiefkind.
Er sagt, es sei nicht leicht für ihn, für alle finanziell und emotional angemessen
aufzukommen, «aber wenn ich hart arbeite, kann ich ja auch allen immer mehr bieten».
Marco und Martina sagen, dass ihnen schon lange klar gewesen sei, dass eine polygyne
Ehe ein «schönes Ziel» (Martina) sei. Religiös-moralisch begründen sie diese Einstellung
so, wie es Salafis aus vielen unterschiedlichen Strömungen auch tun (vgl. EZE CH 2020; Ulucay und Vogel 2020a, 2020b; Illi 2018): Wenn das Geld, die persönliche Eignung und die Fähigkeit zur emotionalen Gleichbehandlung
mehrerer Frauen beim Mann vorhanden seien, dann sei es ihm geboten, mehr als einer
Frau die Ehe zu ermöglichen. Täten dazu fähige Männer das nicht, hätten sie zu verantworten,
dass unverheiratet bleibende Frauen mit Ehelosigkeit, Einsamkeit, finanzieller Prekarität,
emotionaler Vernachlässigung und sexuellen Versuchungen zu kämpfen hätten. Ausserdem
sei in Gemeinschaft alles leichter (Martina), Aufgaben des Alltags wie die Kinderbetreuung
könnten in einer polygynen Beziehung aufgeteilt werden und «man hat ja dann auch immer
wen zum Reden, eine Schwester, eine neue» (Martina).
Martina und Ursula kannten einander aus einer kleinen privaten Frauengruppe, die sich
unregelmässig zwecks Austauschs über religiöse Fragen trifft, bevor Ursula Marco zum
ersten Mal begegnete. Ursula empfand es damals als sehr schwierig, einen Mann zu finden,
der «wie schon erwiesenermassen gut ist als Mann, für gerade eine islamische Ehe».
Dieser Beweis der partnerschaftlichen Eignung eines potentiellen Gatten war ihr äusserst
wichtig, da ihr Exmann offenbar weder ihre Religiosität unterstützte noch seine bisweilen
aggressive Impulsivität kontrollieren konnte. In ihrer nächsten Verbindung wollte
sie darum einen Mann, der sich bereits als Ehemann und Vater bewährte. Ursulas Familie
unterstützt die Konversion ihrer Tochter nicht; Ursula konnte also nicht auf familiäre
Vermittlung bei der Suche nach einem Ehemann hoffen, und «meine Scham13 verbietet es natürlich, dass ich einfach auf Männer losgehe [und sie anspreche]»,
wie sie sagt. Darum war Ursula froh, als Martina sie fragte, ob sie sich vorstellen
könne, die zweite Ehefrau ihres Mannes zu werden – denn «bei Martina wusste ich, dass
sie gut behandelt wird, und dass ihr Mann Religion hat und weiss, was eine Mehrehe
bedeutet … auch an Pflichten für ihn» (Ursula).
Martina wiederum hatte mit Marco die Absprache gefasst, dass eine Zweitfrau zwar gemeinsames
Beziehungsziel sei, aber niemals eine Annäherung Marcos an eine andere Frau ohne Martinas
Zustimmung stattfinden könne:
Da hatte ich schon eine gesunde Eifersucht (…) es ist ja h. aram [tabubelegt, religiös verboten], dass ein Mann einfach dahergeht und Frauen durchsieht
wie Kleidung, die man mal anzieht und dann wegwirft oder einfach nur mal hervorzieht
und anschaut so zum Spass. (Martina)
Was Martina hier als «gesunde Eifersucht» kennzeichnet, bedeutet für sie: Eine Eifersucht,
die religiös-moralisch zu rechtfertigen ist. Diese spezifische Eifersucht, die ihren
Mann davor bewahrt, fremde Frauen visuell zu konsumieren und sich damit unter religiösen
Gesichtspunkten schuldig zu machen an ihnen und ihren eventuellen (späteren) Partnern14, bedarf also aus Martinas Sicht keines Verschweigens und keiner Korrektur. Im Gegenteil,
diese Eifersucht beinhaltet protektive Elemente und sie ist religiös geboten. Wenn
also Martina diese spezifische Gefühlsherleitung betont und «dann auch schau[t], dass
ich das wirklich auch so meine und nicht nur so tue, weil ich neidisch bin auf andere
Frauen oder so» (Martina), haben wir es mit einer zunächst impulsiv empfundenen, daraufhin
intrapersonell überprüften und schliesslich für religiös-moralisch gut befundenen
Gefühlsregung zu tun. Solcherart geprüft und für gut befunden, wird das Gefühl in
der Konsequenz nicht nur bewusst wahrgenommen, sondern auch mitgeteilt und dem beteiligten
Mann explizit als religiös gerahmt dargelegt. Durch das Fühlen, Bewerten und Zulassen
dieser Form von Eifersucht praktiziert Martina eine Eifersucht, die religiösen Norm-
und Idealwert besitzt.
Marco sah seinerzeit zudem wenige Möglichkeiten, selbst potentielle Zweitfrauen kennenzulernen.
Ein Mann könne zwar über bestimmte dating-Seiten wie etwa secondwife.com suchen, aber
dann wisse er immer noch nichts über die soziale Reputation einer Person:
Und es ist auch nicht gut, da rumzusuchen und vielleicht auch begehrlich jemanden
anzusehen. Islamisch ist es da richtig, dass man sich davon fernhält. Und da war es
gut, dass Martina darum auch gesagt hat: Sowas geht nicht. Also islamisch ist das
allweg nicht, und es ist auch nicht richtig, weil man soll seine Frau so angucken
und nicht andere Frauen. Das konnte die Martina natürlich verlangen, dass ich da nicht
mal in die Nähe von zina [Ehebruch] komme. Da passen wir schon aufeinander auf. (Marco)
Er interpretiert Martinas damalige Eifersucht also ebenfalls als religiös-moralisch
gerechtfertigt und damit als protektiv. Für ihn ist diese Form der Eifersucht ein
wünschenswertes Gefühl, ein religiöser Wert und zudem eine Fürsorgegeste unter Ehepartnern,
die nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar erwünscht und hilfreich ist.
Dass Martina Ursula letztlich mit Marco zusammenbrachte, war einerseits dem Umstand
geschuldet, dass die Frauen sich gut verstanden – und andererseits Martinas religiös
begründeter Überzeugung, dass es Marcos Recht und ihre Aufgabe sei, eine weitere Ehegattin
in die Familie aufzunehmen, wie sie sagt. Jeder Part einer sich anbahnenden polygynen
Ehe führe dabei ihrer Ansicht nach einen «eigenen Kampf, um ein besserer Mensch zu
werden»: Die Frauen fochten eher gegen die «einfach giftige» Eifersucht, der Mann
ringe eher mit der Pflicht, allen gleichmässig eine gute Ehe zu bieten. Sowohl Ursula
als auch Marco und Martina war immer wieder wichtig zu betonen, dass es «extrem zentral
[ist], dass vor allem die Frauen sich mögen und miteinander gut auskommen» (Martina),
da sie eine möglichst harmonische Lebensgemeinschaft zusammen aufbauen wollten und
beide mit demselben Mann verheiratet seien.
«Giftige» Eifersucht bewältigen
Eines Abends beim Essen, es gibt Lamm, sitzt Ursula nah bei Marco und erzählt von
einem Buch, das sie lesen möchte. Plötzlich ein Schrillen, rund um den Tisch schrecken
alle auf: Ich selbst brauche einen Moment und drei rhythmische Wiederholungen des
Schrillens, um zu verstehen, dass nicht etwa ein Feueralarm, sondern Marcos Handy
die Quelle des Geräuschs ist. Marco zieht es umständlich aus seiner Hosentasche und
wendet sich ab, während er das Gespräch annimmt; wenige Sekunden später verlässt er
telefonierend das Zimmer. Ursula sieht stumm und zusammengesunken auf ihren Teller.
Auf einmal hebt sie ruckartig den Kopf: «Ja, so ist das.» Was sie meine, frage ich
leise. «Da ist jetzt sicher irgendwas bei Martina und dem Kleinen. Also, wir rufen
Marco nur bei der anderen an, wenn was ist. Kann niemand etwas dafür. Aber eben, gerade
waren wir ja hier zusammen.» Sie nimmt mir das Geschirr aus der Hand und verschwindet in der
Küche. Als sie wiederkommt – Marco ist noch am Telefon – ist sie etwas entspannter
und sagt: «Ich will nicht so neidisch sein, weil jeder macht ja [für das Gelingen
der Ehegemeinschaft], was er kann hier […] ich sollte nicht eifersüchtig sein.» Ich
frage, ob ich gehen solle, damit sie Zeit für sich habe. Sie antwortet, alles sei
in Ordnung; später wolle sie beten und sich vor Augen rufen, dass sie Geduld haben
müsse und ihre «giftige Eifersucht loswerden» wolle, «weil ohne fühle ich mich freier.»
Immerhin gehe ihr Mann ja, wenn er von ihr weggehe, nicht zu irgendeiner Frau, sondern
allenfalls in einem Notfall zu seiner eigenen Frau, nämlich Martina. «Und ich habe
dadurch ja auch Vorteile. Ich muss ihn nicht alleine glücklich machen.»
Marco kommt ein wenig später herein und berichtet, sein Kind habe Fieber und Martina
sei unsicher, ob ärztliche Behandlung nötig sei. Martina habe sich entschuldigt, in
seine und Ursulas Zeit hineingeplatzt zu sein. Als er das sagt, lächelt Ursula ihn
an und sagt: «Das macht gar nichts. Und der Kleine geht vor.» Marco ist in Gedanken
offensichtlich bereits bei seinem fiebernden Sohn und kündigt an, vielleicht nachts
zurückzukommen, falls das Fieber sinke. Ursula verabschiedet ihn und auch mich kurze
Zeit später, um sich zurückzuziehen.
Ursula erlebt hier zunächst, was sie als «giftige» Eifersucht kategorisiert: Ein empfundenes
Zurückgesetztsein und eine persönliche Betroffenheit, dass ihr Mann zu seiner Erstfrau
geht und nicht bei ihr bleibt. Aber im Gegensatz zur protektiven Eifersucht gegenüber
Nichtehefrauen ihres Mannes, die von ihr mitgeteilt und gehegt würde, reagiert sie
auf diesen unerwünschten Eifersuchtsimpuls mit einordnenden und dämpfenden Selbstregulationen
– die Eifersucht, die sie empfindet, erscheint ihr «giftig», weil sie nicht die Qualität
eines religiösen Werts besitzt. Der Eifersucht auf eine nach ihrem Verständnis rechtmässige
Ehefrau ihres Mannes begegnet sie, indem sie versucht, ihre unmittelbare Betroffenheit
durch zeitnahe religiöse Kontemplation und Selbstmahnungen auszugleichen. In anderen
vergleichbaren Momenten sagte sie, dass ein zentrales Ziel in puncto Emotionsregulation
stets das subjektive Wohlergehen sei,
[weil] mich das ruhiger macht als alles andere, wenn ich mich von so einem giftigen
Gefühl wegbringe […] Klar fange ich mich sozusagen auch darum [emotional] ein, weil
das islamisch ist, aber eben auch, weil es mir dann einfach gut geht. (Ursula)
Auch Martina verwies in einer ähnlichen Situation mit umgekehrten Vorzeichen explizit
darauf, dass ihr Glauben ihr nicht nur die Forderung stelle, selbstsüchtige Eifersucht
zu drosseln, sondern ihr zugleich die Mittel dazu an die Hand gebe und damit effektiv
auch ihre subjektive Entspanntheit fördere:
Wenn es mich überkommt [Eifersucht], dann konzentriere ich mich auf das, was schöne
Eigenschaften für eine Ehefrau sind. Also wie ich sein will. Und ich bete und lese
dazu [zu dem Thema], das macht mich ruhiger […] Ich merke ja selbst, wenn ich so Zickerei
nicht zulasse, dann komme ich viel besser zuwege von meiner Stimmung her. (Martina)
Protektive Eifersucht hegen
Genauso kann die emotionale Selbstregulation gemäss religiös-moralischen Empfehlungen
auch das Steigern einer als zu gering empfundenen «guten» Eifersucht betreffen. Dies
ist eine Forderung, die beispielsweise Ursula gegenüber Marco hinblicklich ihrer Erwerbstätigkeit,
die Kontakte mit fremden Männern beinhaltet, öfter und durchaus klar artikulierte.
Marco wird von ihr ab und an freundlich ermahnt, mehr protektive Eifersucht zu zeigen,
und erlebt diese Mahnungen als «gegenseitige Hilfe für ein islamisches Leben».
Wenn Ursula von der Arbeit kommt und Marco bereits in ihrer Wohnung auf sie wartet,
kann es vorkommen, dass er kurz verstimmt ist. Er sagt dann beispielsweise halb scherzhaft,
halb ernsthaft, dass sie sich besser um die Kunden ihres Arbeitgebers kümmere als
um ihren Ehemann. Ursula kontert das meist auf zwei Ebenen. Einerseits betont sie,
er müsse nicht daran zweifeln, dass ihr andere Männer egal seien; wenn sie gereizt
ist, murmelt sie vielleicht zudem, er solle ihre Ehre nicht beleidigen. Andererseits
stichelt sie halb witzelnd zudem oft, dass er besser schnell beruflich aufsteige,
damit sie eine «richtige Frau» sein könne in dem Sinne, dass sie nicht länger zum
Einkommen beitragen und beruflich bedingt fremde Männer treffen müsse; wenn er das
nicht vorantreibe, werde er irgendwann noch als dayyuth betrachtet. Das wiederum ist die Bezeichnung für einen Mann, der beispielsweise Unzucht
unter Angehörigen wissentlich duldet, der also religiösen Schutz- und Anleitungspflichten
nicht nachkommt. Dayyuth bezeichnet ausserdem einen Mann, der nicht willens bzw. in der Lage ist, besonders
weibliche Familienmitglieder daran zu hindern, aufreizend und somit Versuchung verursachend
aus dem Haus zu gehen. Der Begriff wird je nach Kontext zudem in Verbindung gebracht
mit Ehrlosigkeit, einem Verlust an Schamhaftigkeit des Mannes und dadurch auch seiner
Angehörigen, mangelnder Erfüllung der Haushaltsvorstandsrolle des Mannes, Gehörntwerden,
oder sogar Unmännlichkeit im Allgemeinen.
Einmal erklärte sie mir den ernsthaften Hintergrund ihrer scherzhaften Mahnungen:
Die protektive Eifersucht, die sie von ihrem Gatten einfordere, sei eine gute Charaktereigenschaft
eines Mannes; sie beweise seine ehrliche Sorge um ihre Seele – denn seine Eifersucht
würde seine Frauen ja vor Versuchungen und Belästigungen bewahren – sowie für eine
Wertschätzung ihrer Gattinnenrolle in einer Weise, die religiösen Idealen entspreche.15 Das könne sie religiös und persönlich von ihm verlangen – nicht aber, dass er «einfach
nur stumpf mir dumm kommt, weil ich im Job eben Männer sehen muss», was sie klar als
«giftige» und moralisch verwerfliche selbstbezogene Eifersucht wertet. Vor allem sei
eine Kultivierung seiner protektiven Eifersucht jedoch «wichtig für seinen Glauben
und schlussendlich auch dafür, dass er ein ganzer Mann ist und sich so auch fühlt.»
Ursula führt also individuelle Wohlbefindensvorteile für alle Beteiligten, daraus
resultierende wünschenswerte Lebensverhältnisse, einen zu erwartenden Reputations-
und Männlichkeitsgewinn für ihren Mann mit einem dadurch gesteigerten Weiblichkeitsgewinn
für sie, und die religiös-moralische Werthaftigkeit protektiver Eifersucht per se
ins Feld, um für eine gezielte Steigerung positiver Eifersucht bei ihrem Mann zu werben.
Ursula grenzt diese wünschenswerte Eifersucht klar ab von einer nichterwünschten Eifersucht,
die bloss zum Gegenstand hat, dass ihr Mann es persönlich ärgerlich findet, wenn sie
eng mit anderen Männern kommuniziert.
Marco sagt dazu bei anderer Gelegenheit, dass es in einer mehrheitlich nichtsalafitisch
geprägten Gesellschaft schwer für ihn als Mann sei, wünschenswerte protektive Eifersucht
zu entwickeln:
Da schwimmst du ja auch gegen den Strom, nicht wahr […] Für mich ist noch schwierig,
nicht zu schmollen, wenn Ursula eben so viel rausgeht und auch alle ihre Stimme16 hören zum Beispiel. Aber ich muss da eben nicht schmollen, sondern was dafür tun,
dass das nicht mehr so ist und sie geschützter ist. Darum geht es ja eigentlich. (Marco)
Er sei aber in einem Prozess, eine solche protektive Eifersucht zu kultivieren, dass
er möglichst im Einklang mit den Vorbildern der ersten muslimischen Generationen stehe
– auch wenn er damit in der Schweiz «gegen den Strom» schwimme, was sein Verständnis
dessen betreffe, was er von seinen Frauen an Einschränkungen des öffentlichen Umgangs
mit anderen Personen verlange: «Aber das wollen sie [Martina und Ursula] ja auch so.»
Er hält eine zunehmende protektive Eifersucht auch für ein Motivationselement, was
sein eigenes berufliches Vorankommen betrifft: Wenn er mehr Geld verdiene, sei Ursula
immerhin nicht länger gezwungen, noch arbeiten zu gehen. Er könne dadurch die Grundbedingungen
dafür schaffen, dass protektive Eifersucht im konkreten Sinne eines Einschränkens
ihrer Kontakte zu Männern überhaupt lebbar sei. Das wiederum würde «so eher alberne
Eifersucht und Schmollerei», wie er es nennt, dämpfen – weil einerseits die Gelegenheiten
abnähmen, in denen sie mit fremden Männern sprechen müsse, und weil andererseits sein
Selbstbild als Mann gestärkt sei, was ihn souveräner machen würde.
Denn dann erfülle ich ja auch, was ich sollte, nämlich dass ich für sie aufkommen
kann […] Dann geht es ja mehr darum, so wie vorausschauend eifersüchtig zu sein und
bestimmten Situationen vorzubeugen, und nicht nur rumzumeckern. Damit geht es mir
dann besser, das weiss ich. (Marco)
Bis er komplett für Ursula aufkommen kann, will er im Rahmen seiner Möglichkeiten
seine Gefühle adjustieren: Wenn er «schmolle» und damit auf selbstbezogene Art eifersüchtig
sei, wolle er sich emotional zunehmend auf seine Sorge um ihr Seelenheil konzentrieren,
das gefährdet sein könnte – und weniger auf den ursprünglichen Wutauslöser, der zurzeit
offenbar oft in Phantasien besteht, wie sie mit anderen Männern lachen oder ihnen
verheissungsvoll über den Arm streichen könnte. Das Händeschütteln, ebenfalls Teil
ihres Berufs in einem deutschschweizerisch geprägten Umfeld, stört ihn weniger – er
glaubt aber, es sollte ihn als frommen Ehemann mehr stören. Das Thema wird auch in
Foren und Blogs des Öfteren aufgegriffen. Ein digitaler Beitrag, der Marco einige
Tage lang nachging, wie er sagt, war der folgende:
Solcher kommt und gibt deiner Frau die Hand, während du ihn, wie eine stumme Ziege
ansiehst. Nein, Ziegen sind besser als du! Er gibt ihr die Hand so, er bewegt ihre
Hand und sieht sie dabei an. Maa schaa Alllah, er genießt es sie anzufassen und betrachtet
sie, wie ein Bulle. Wo ist deine Männlichkeit? Wo ist deine Eifersucht? Wo ist deine
Religion? (1wissen2taten3dawah.wordpress.com 2015)
Marco beabsichtigt also nicht etwa, eifersüchtige Impulse ersatzlos zu entschärfen
und abzubauen, so wie es seine Frauen bisweilen dann versuchen, wenn sie aufeinander
eifersüchtig sind. Stattdessen möchte er ein impulshaftes Gefühl der selbstbezogenen
Eifersucht religiös-moralisch umdeuten, indem er die angenommene kausale Grundlage
der Empfindung modifiziert: Von Selbstunsicherheit hin zu Sorge um seine Frauen und
ihr Seelenheil. Dies würde eine Umwandlung in «gute» Eifersucht und letztlich die
Erfüllung eines religiös erwünschten Wertes bedeuten, was zudem seinem Rollenideal
als frommem Ehemann besser entspräche.
Fazit
Die am Beispiel vom Umgang mit Eifersucht beschriebene Form der Gefühlsregulation
– einerseits als religiös-moralischer Imperativ, andererseits als alltägliche Praxis
– bedeutet für viele SalafitInnen im deutschsprachigen Raum einen zugleich religiös
unverzichtbaren und subjektiv bereichernden Aspekt ihres Lebens. Das Evaluieren und
Abdämpfen eigener Impulse und Gefühle ist dabei sowohl vorausgesetztes Gebot eines
religiösen Erwünschtheitskanons als auch handlungsanleitendes Mittel sowie anzustrebendes
Ziel. Das Zwischenschalten religiös inspirierter Werte- und Selbstevaluationsstrategien
führt dem Verständnis und dem Empfinden vieler Salafis nach nicht nur zu einem gottgefälligen
Leben, sondern auch zu gelungenerem partnerschaftlichem Miteinander, zu gesteigerter
Männlichkeit bzw. Weiblichkeit, und zu mehr individueller Ausgeglichenheit.
Die distanzierende, abwägende Forderung der beschriebenen feeling rules (Röttger-Rössler et al. 2015) ist dabei in einem weitgespannten Netz von Regulationsimperativen betreffend Nähe
und Distanz zu verorten, das typisch für salafitische Religiosität ist. Weitere Nähe-Distanz-regulierende
Normen betreffen beispielsweise Berührungs- und Blickkontaktregeln,17 Gender-Sphären und damit verbundene Kleidungspräferenzen18 oder auch Regeln über die Beziehungsqualitäten, die zwischen Salafis und Nichtsalafis
als wünschenswert beziehungsweise unerwünscht gelten.19
Ich halte Distanzierungs- und Mittelbarkeitselemente, auch und besonders emotionsbezogene,
für ein wesentliches Charakteristikum salafitischen Glaubens, Erlebens, Handelns und
Denkens. Mittelbarkeit wird hier nicht in erster Linie verstanden als Element von Religiosität, das Mittelspraxen
zwischen Göttlichem und Nichtgöttlichem beinhaltet (siehe Robbins 2017 für eine Übersicht über ethnologische Verständnisse von Religion in dieser Hinsicht),
sondern als Form des regelbezogenen Umgangs einer (salafitischen) Person mit der Welt,
mit den eigenen Gefühlen und mit den Mitmenschen, der sich wie eine Schutzschicht
zwischen den Glaubenden und alles potentiell Bedrohliche, weil als gottesfern Erlebte,
legt. Eigene spontane Gefühle fallen dabei in die Kategorie des potentiell Bedrohlichen
und sind darum prinzipiell religiös zu evaluieren, sowie gegebenenfalls entsprechend
zu modifizieren.
Nähe-Distanz-Austarierungen unter Rückgriff auf religiöse Mittelbarkeitskonzepte bestimmen
bei meinen ForschungspartnerInnen also nicht nur die Beziehung zwischen Individuum
und sozialer Umgebung, was Robbins (2017; s. auch Robbins 2019) anderswo zurecht als eine wichtige Wirkung von Religionskonzepten identifizierte.
Nähe-Distanz-Auslotungen bestimmen ausserdem die Beziehung zwischen einer Person und
ihren eigenen Emotionen, Erlebnissen und Bewertungen – also zwischen einer Person
und ihr selbst. Gefühle, die zu “objects of moral assessments” (Cassaniti 2014, 280) werden, können dabei bereits im Zuge dieser moralischen Bewertung umgedeutet
oder aber durch eine mit ihnen verknüpfte Handlung respektive eine aufwändigere, veränderte
Gefühlsbewertungsanstrengung modifiziert werden.
Im Gegensatz zu anderen ebenfalls dezentralen, basisgetragenen und literalistischen
religiösen Gruppen wie Pfingstkirchen (Meyer 2010) scheinen auch in Moscheengemeinschaften tief verwurzelte deutschschweizer Salafis
sich seltener offensichtlich und relativ spontan erfüllt zu fühlen von als religiös
induziert verstandenen Emotionen und sinnlichen Erlebnissen. Stattdessen müssen sie
sich durch «korrekte» und intensive Religiosität erst den Weg zu religiös richtigem
Fühlen bahnen.20 Gefühle sind somit spürbarer Gradmesser des rechten Glaubens, Optimierungsfeld des
Glaubenden, und – mit zunehmender Selbstregulation – spontaner Erfahrungsraum des
eigenen vermuteten Rechtglaubens, der nämlich dann angenommen wird, wenn das eigene
Empfinden irgendwann akkurat mit religiösen Idealen zusammenfällt. All diese Dimensionen
und die zu ihnen gehörigen Evaluations- und Regulationsprozesse wiederum werden als
erdend, stabilisierend, ausgleichend erlebt. Kurz: Das moralisch-religiös Gute und
das Sich-gut-Anfühlende fallen für viele Salafis in der Dimension des religionsspezifischen
Emotionsmanagements zusammen, und das verwurzelt sie in ihrer Glaubensweise. Dieses
Emotionsmanagement ist wiederum eine wichtige Facette jener vielfältigen Mittelbarkeiten
und Nähe-Distanz-Auslotungen, die salafitische Religiosität wesentlich ausmachen.